Am Eingang der Praxis, in der Ralf Sartoris zusammen mit seinem Team Patienten betreut, sammeln sich an manchen Tagen schon vor der Öffnungszeit Besucher und warten darauf, dass es los geht. Man kennt sich, manche der Besucher stehen in Gruppen zusammen. Schließt der Praxismanager Fritz Philip Busch kurz vor neun die Türen auf, verläuft sich der Auflauf. Die Praxis Busch – benannt nach der kürzlich verstorbenen Inhaberin Ans-Barbara Busch – ist eine der Pionierpraxen für die Substitutionstherapie Opiatabhängiger in Köln. Morgens um 9 und mittags um 12 Uhr erhalten Opiatabhängige hier im Kölner Süden ihre Substitutionsmedikation.
Sartoris – er vertritt die verstorbene Praxisinhaberin – kommt meist gegen Viertel vor neun. Der Facharzt für Allgemeinmedizin hat viel Erfahrung mit der Betreuung von Opiatabhängigen und hats schon vor Langem die entsprechende Zusatzweiterbildung „Suchtmedizinische Grundversorgung“ durchlaufen. „Die Substitutionstherapie ist ein Schwerpunkt der Praxis, das ja, aber durchaus nicht unser einziges Arbeitsfeld“, erläutert er. Die Praxis betreut insgesamt rund 900 Patienten. Die meisten wohnen im Umfeld in der Kölner Südstadt. „Diabetes, Bluthochdruck, Infektionserkrankungen – unsere Patienten decken das gesamte hausärztliche Spektrum ab“, so Sartoris. Die Patienten in der Substitutionstherapie sind ein Teil davon – im Augenblick betreut die Praxis 51 von ihnen.
Sartoris beginnt seine Sprechstunde an diesem Dienstag im Arztzimmer gegen neun. Heute wird ein langer Tag werden – dienstags bietet die Praxis eine Abendsprechstunde für Berufstätige an. Und die Opiatabhängigen mit ihrer Substitutionstherapie? An normalen Tagen haben sie erst einmal mit Sartoris gar nichts zu tun. Sie gehen direkt durch, nach hinten links, in den Substitutionsraum. Hier wartet Fritz Philip Busch auf sie. Er ist nicht nur medizinischer Fachangestellter, sondern auch Substitutionsassistent. „Nach einer entsprechenden Qualifikation haben wir die Berechtigung, das Substitutionsmittel auszugeben – die Patienten brauchen es ja täglich“, erläutert er.
Einmal in der Woche sehen die Substituierten den Arzt, bei Bedarf natürlich auch häufiger, bei Problemen sofort.
Haben sie gesundheitliche Probleme, betreut Sartoris sie nebenan im Rahmen der Sprechstunde. Busch kennt sich aus – nach Biologiestudium, Ausbildung zum medizinischen Fachangestellten und zum Substitutionsassistenten hat er jahrelang Abhängige sozialarbeiterisch betreut.
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Ein Mann kommt herein, rund 30 Jahre alt. Routiniert nimmt er sich einen kleinen Becher vom Regal und stellt ihn unter den Hahn einer kleinen Dosiermaschine – kaum größer als ein Kaffeeautomat. Busch ruft den Namen des Patienten aufeinem PC auf und der Automat dosiert die richtige Menge Substitutionsmittel. Zwei Schlucke, ein Winken, alles klar, danke, bis Morgen – es hat kaum eine Minute
gedauert. Nächster Patient. Er ist jünger, vielleicht 20 Jahre alt. Auch ihm dosiert der Automat sein Medikament in einen Becher. Aber nachdem er den ausgetrunken hat, druckst er noch etwas herum. „Mal wieder Blut abnehmen“, murmelt er. Fritz Philip Busch kontrolliert die Termine der vergangenen Blutabnahmen im PC. „Können wir machen“, sagt er, „gibts einen besonderen Anlass?“ – „Naja, hab letztens ein bisschen Mist gebaut“, murmelt der Mann, „sonst bin ich aber super-brav, Ehrenwort.“ Busch nickt. Also Blutabnahme. Was genau der Mann meint und ob er einen HIV-Test, Hepatitis-Screening oder etwas anderes benötigt, wird nicht so ganz klar. Das muss noch geklärt werden, Busch macht einen Termin für die Sprechstunde bei Sartoris. In der nächsten halben Stunde kommen 20 bis 30 Patienten in den Substitutionsraum. Kurze Begrüßung – „alles klar?“ – das Praxisteam checkt, ob der Patient klar und orientiert ist. Dann surrt der Dosierautomat, die Patienten erhalten ihr Mittel – „bis morgen!“
Fakten & Fakten
Deutschlandweit befinden sich laut dem Bundesministerium für Gesundheit rund 77 000 Menschen mit einer Abhängigkeit von illegalen Opioiden in einer Substitutionsbehandlung. Der Bundesrat hatte im Mai 2017 entschieden, den Rahmen für diese Behandlung neu zu gestalten. Die Bundesärztekammer (BÄK) regelt nun die ärztlich-therapeutischen Belange in einer Richtlinie. „Es ist gut, dass die Politik die Richtlinienkompetenz in diesem wichtigen Bereich auf die ärztliche Selbstverwaltung übertragen hat. Die Therapie unterliegt damit nicht mehr starren gesetzlichen Regelungen“, sagt der Vorsitzende der BÄK-Arbeitsgruppe „Sucht und Drogen“, Josef Mischo. Die neue Richtlinie der BÄK erläutert die Voraussetzungen, die Durchführung und die Begleitung der Substitution ausführlich. Die Muster-Weiterbildungsordnung der BÄK sieht außerdem eine Zusatzweiterbildung „Suchtmedizinische Grundversorgung“ vor, die Fachärzten zum Beispiel für Allgemeinmedizin Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten unter anderem in der Substitutionsbehandlung vermittelt. Welche Qualifikationen die Ärzte für die Behandlung in bestimmten Regionen haben müssen, regeln letztlich aber die einzelnen Ärztekammern vor Ort.
Am Wochenende wechseln sich die neun Ärzte reihum ab und geben das Substitutionsmittel in einem gemeinsamen Raum aus. Das Ganze hat bereits Anfang der 90er-Jahre begonnen, als Pilotprojekt. Die Ärzte sind im Kölner Arbeitskreis Sucht gut vernetzt. Hier wirken Mitglieder von Selbsthilfegruppen, ambulante und stationäre Suchthilfeeinrichtungen, Betriebe und Ausbildungsstätten sowie Dienste der Gesundheits- und Suchtprävention zusammen. Regelmäßig trifft sich der Arbeitskreis zum fachlichen Austausch, zu Fortbildungen, Planungen und zur Sicherung der Versorgung Suchtkranker und ihrer Angehörigen. Wer kommt zur Substitutionstherapie und woher? „Wir bekommen Patienten von den städtischen Auffangstationen in der Innenstadt, über Mundpropaganda oder auch über die Selbsthilfe im Arbeitskreis Sucht. Und wer da kommt, ist ganz verschieden“, erläutert Busch. Das Spektrum reicht vom obdachlosen Junkie – dem Klischeebild des Heroinabhängigen – bis zum Angestellten, der voll im Berufsleben steht. Es ist schon ein Erfolg, wenn jemand im Alltag zurechtkommt und keinen Beikonsum mehr hat – zum Beispiel mit Benzodiazepinen, Kokain und natürlich mit Opiaten.
Genügt dazu die Substitutionstherapie?
„Sie schafft den Raum dafür, überhaupt Lebensperspektiven und Therapieziele zu entwickeln“, erläutert Busch. „Aber natürlich benötigen die Patienten psychosoziale Unterstützung.“ Die erhalten sie auch. Sie reicht von einer intensiven Begleitung im Rahmen des sogenannten ambulant betreuten Wohnens bis zu Gesprächen, die nur noch einmal im Monat stattfinden – je nachdem, wie intensiv der Bedarf ist. Die psycho-soziale Begleitung ist sogar Voraussetzung dafür, in das Substitutionsprogramm aufgenommen zu werden. Busch zeigt den Vertrag, den jeder Patient vor der Aufnahme in das Therapieprogramm gründlich lesen und dann unterschreiben muss. Er geht dann an die Kassenärztliche Vereinigung, denn die Substitutionstherapie ist eine Kassenleistung, sie wird also von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Ungewöhnlich: Der Vertrag beginnt mit einem Gedicht. „Wer noch lebt, sage nicht niemals“, ist der Titel. „Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?“,fragt der Autor – es ist Bertold Brecht – darin. Der Text stimmt darauf ein, den Kampf mit der Sucht aufzunehmen. „Aus niemals wird: heute noch!“ Der übrige Vertrag umreißt die Bedingungen der Therapie und was der Suchtkranke dafür tun muss. „Sorgen Sie dafür, dass Sie clean aussehen und nicht alkoholisiert sind. Stichprobenkontrollen auf Alkohol: bis 0,5 Prozent halbe Dosis, darüber nix!“ heißt es wörtlich im Vertrag. Wichtig ist außerdem: „Der Konsum anderer suchterzeugender Substanzen und die Einnahme von Medikamenten ist nicht erlaubt, ausgenommen sie wurden vom Arzt verordnet oder abgesegnet“, heißt es im Vertrag weiter. Dort wird auch klargestellt, dass die Behandlung abgebrochen wird, wenn der Patient drei Tage am Stück unentschuldigt fehlt oder nicht an der psycho-sozialen Betreuung teilnimmt, zum Beispiel die Gespräche verweigert.
„Apropos Beikonsum“, sagt Busch und zeigt auf den Dosierautomaten. „Positiv denken und negativ abpinkeln!“ steht auf einem angeklebten Zettel. „Viermal im Quartal machen wir Urintests“, erläutert er, „natürlich unangekündigt. Manchmal auch direkt hintereinander. Das zweite Mal ist dann für manche sehr überraschend.“ Jetzt hat Sartoris eine Pause in seiner Sprechstunde und kommt herüber in den Substitutionsraum. Die Patienten, die morgens ihr Polamidon abholen, sind alle fertig und haben die Praxis wieder verlassen. „Alles in Ordnung?“ Er bespricht einzelne Patienten mit seinem Praxisteam, macht Termine. „Vor der Aufnahme in das Programm wird natürlich jeder Patient gründlich untersucht. Auch ein Laborscreening findet statt“, erläutert er. Die Dosierung des Substitutionsmittels richtet sich auch nach dem früheren Konsum des Patienten. Außerdem werden die Patienten geimpft, manchmal starten zusätzliche Therapien, zum Beispiel gegen eine Hepatitis. „Dann laufen sie hier im normalen Praxisbetrieb mit“, erläutert Sartoris. Gegenüber der Betreuung in reinen Ambulanzen für Drogenkranke sieht er darin deutliche Vorteile: „Die Patienten müssen sich in den Ablauf der Praxis integrieren, anständig gekleidet und gewaschen sein, Termine machen, diese einhalten und so fort“, meint er. Die übrigen Patienten der Praxis – die rein hausärztlichen – begegneten auf diese Weise den Suchtpatienten, zum Beispiel im Wartezimmer, das baue Vorurteile und Stigmatisierungen ab. „Das Ganze funktioniert erstaunlich gut“, ist sich das Praxisteam einig.
Natürlich gibt es auch Rückschläge: „Häufig erleben die Patienten mit dem Start der Therapie eine Phase der schnellen körperlichen Erholung. Oft folgt dem eine Depressionsphase, wenn sie sich oft erstmals seit Jahren wieder ihrem Leben zuwenden können und feststellen, vor welch einem Scherbenhaufen sie stehen. Das braucht dann Zeit und Begleitung“, erläutert Sartoris. Aber er ist sich aus seiner langjährigen Arbeit mit den Suchtkranken sicher: „Die Arbeit lohnt!“
„Zunächst möchte ich mich bei der ehemaligen Praxisinhaberin Frau Busch bedanken, dass sie mir das Leben gerettet hat! Die Therapie erlaubt mir, meinem Beruf als Musiker nachzugehen und als normaler Mensch zu leben.“
Patient, 40 Jahre
„Wegen der Therapie kann ich wieder arbeiten. Aber es ist doch oft schwer. Man wird anders behandelt, auch im Krankenhaus. Alle schreien sofort nach Handschuhen und häufig heißt es: ‚Ach, das ist doch nur ein Drogi!‘.“
Patient, 47 Jahre
Quelle: Dieser Artikel ist erschienen in Medizin Studieren 1/2018, S.18f