Was läuft hier eigentlich schief?

Unsere Operation Karriere-Bloggerin Lillian hat Stress: Mit ihren Kindern, aber auch beruflich in der Klinik. Da ist sie aktuell allein für die ganze Station zuständig, soll aber trotzdem Überstunden abbauen. Das findet sie unfair – und fragt sich, was da eigentlich gerade schief läuft.

08:07 Uhr, ich sitze am Schreibtisch, die Tür ist zu. Stille. Etwas ganz Ungewohntes für mich. Für mich, die nicht mal überrascht oder genervt ist, wenn ständig jemand ins Bad platzt, während sie duscht – die sogar erleichtert ist, wenn sich die Probleme aus der Duschkabine lösen lassen und sie nicht triefend nass und zitternd helfen muss, das Hausaufgabenheft zu finden.

Stille also.

“Mama, warum machst du immer so einen Stress?! Mit Papa ist es viel entspannter!”, hallt es in meinem Kopf wider. Ich bin ausgetickt heute Morgen. Erst waren die Socken zu eng, dann diese doofen Nester in den Haaren, echt jeden Morgen dasselbe; im Müsli zu wenig Schokostückchen und für die Brotzeit nicht die richtige rosafarbene Box gefunden. Während mein Großer sich seelenruhig und selbständig fertig macht, macht meine Tochter einfach nur mich fertig. Die Uhr tickt im Hintergrund, während sie quietschend Haare kämmt. Um 7:20 Uhr muss ich aus dem Haus. Also nicht ich mache den Stress, sondern die tickende Uhr. Deswegen sagt man ja auch “ausgetickt”.

Wütend habe ich die Kinder ihrem Schicksal überlassen und bin um 7:25 Uhr zur Arbeit gefahren, gerade noch rechtzeitig. Im Auto lässt die Anspannung nach. An der roten Ampel fallen die hochgezogenen Schultern herunter, ich lasse den Kopf erschöpft auf das Lenkrad sinken. Und weine. Es ist einfach zu viel. Dieser Satz… Papa ist viel entspannter… Da kommt wieder die Wut. Die Ampel schaltet auf grün und ich lasse den Motor aufheulen, gebe viel zu viel Gas. 20 Minuten habe ich, um runterzukommen, die Tränen wegzuwischen und mich auf die andere Welt einzulassen. Ich steige aus, zupfe mich zurecht und rufe auf dem Weg vom Parkplatz zur Klinik noch schnell meine Nachbarin an. Ja, die Kinder sind losgegangen, mit Schulranzen auf dem Rücken, die Haustür ist zu. Puh.

In der Arbeit angekommen

Noch pünktlich habe ich es in die Morgenbesprechung geschafft, wo uns heute vorgehalten wurde, dass wir zu viele Überstunden haben und wir – da die Klinik ja jede einzelne Überstunde in Geldwert zurückhalten muss, falls wir uns alle gleichzeitig unsere Überstunden auszahlen lassen wollen, und wie wir alle wissen, die Klinik im Minusbudget ist – also wir bitte schauen sollen, dass wir Überstunden abbauen. Wenn wir also mal früher fertig sind, einfach dem zuständigen Oberarzt bescheid geben, und dann dürfen wir auch gern früher gehen.

Ich fühle mich verarscht, kann aber nicht zuordnen, ob dieses Gefühl noch von meinem privaten Tohuwabohu stammt oder dieser neuen Nachricht zuzuordnen ist. Als Stimmungscheck schaue ich mich um und sehe in teilnahmslose Gesichter meiner Kollegen. Alles Amöben. Noch bevor ich weiterdenken kann, wird ein schöner Tag gewünscht und alle trotten auf ihre Stationen.

Leerlauf – für die paar Minuten, bis der Computer hochgefahren ist, und ich bin sogar allein im Arztzimmer. Aber allein im Arztzimmer ist kein Glück, denn das heißt, dass ich auch allein für die ganze Station zuständig bin. 22 Patienten statt 11. Immer noch keine 30, für die räumlich Platz wäre – acht Betten sind aufgrund von Pflegekräftemangel gesperrt. Deshalb ja auch das Minusbudget.

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Der Computer piepst. Passwort eingeben und noch mal warten.

Arbeitsteilung

Es ist unfair. Papa ist entspannter. Klar, ist er das! Er muss nicht um 7:20 aus dem Haus, er kann sich seine Zeit selber einteilen, er arbeitet von zu Hause aus und verdient damit ein Schweinegeld! Klar ist Papa entspannt, er hat auch nicht im Hinterkopf: “Turnschuhe für Sohn suchen, Skianzug für Tochter zurückschicken, aber heute komme ich spät von der Arbeit, also am Mittwoch, ach und die Rechnung für das kaputte Türschloss noch bezahlen, die Butter ist alle!”

Papa kann auch absagen, wenn er doch keine Zeit hat, weil Mama immer da ist.

Es ist unfair. Spaß-Papa und stressige Mama. Diese Ungerechtigkeit kann ich nicht abschaffen. Wie oft habe ich ihm Aufgaben gegeben, die nie erfüllt wurden. Wie oft habe ich dann doch die Turnschuhe gekauft… Sodass wir alle besser dran sind, wenn ich es von Anfang an mache. Aber das werde ich den Kindern nicht auf die Nase binden, getrennte Eltern dürfen nicht schlecht übereinander reden, es bringt die Kinder in einen Loyalitätskonflikt. Diese Ungerechtigkeit muss ausgehalten werden, in dem Vertrauen, dass die Kinder ganz gut wissen, dass und was ich alles für sie tue.

“Lilly, die Angehörigen von Frau H. sind da”, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Montag, 8:14 Uhr, der Computer endlich hochgefahren (sieben Minuten, im 21. Jahrhundert!) und Angehörige wollen etwas zu ihrer Mutter wissen. Ich kenne keinen einzigen Patienten auf dieser Station, letzte Woche war ich auf der Notaufnahme.

“Ja, Moment, ich komme in zehn Minuten.” Dann fange ich eben mit Frau H. an, plane ich in meinem Kopf, rede schnell mit den Angehörigen und mache dann die restlichen Patientinnen und Patienten. Also schaue ich mir die Befunde durch, öffne den Röntgen-Thorax, der am Freitag angefertigt wurde und gerade, als ich diese seltsame Struktur größer zoomen will, hängt sich der Computer auf. Nichts geht mehr. Seufzend mache ich den Affengriff, den ich noch aus meiner Kindheit kenne. Ja, Beenden erzwingen, ja, Daten könnten verloren gehen. Zum Kuckuck. Also wieder warten.

Was läuft hier eigentlich schief?

Unfair ist das. “… gern auch mal früher gehen.” Denken die, wir popeln hier in der Nase? Eine ganze Station allein und dann “gern früher gehen”. Wie wäre es denn mit der Idee, die Überstunden zusammen zu zählen, um abschätzen zu können, wie viel Personal mehr eingestellt werden sollte?

Letzte Woche war ich auf der Notaufnahme. Da muss man ja viele Dinge gleichzeitig machen, behandeln ist fast Nebensache. Unter anderem muss man immer auf dem Schirm haben, wie viele Betten noch frei sind, damit wir die Patientinnen und Patienten auch aufnehmen können. Sind keine mehr frei, wird über die Rettungsdienstzentrale abgemeldet, sodass der Rettungsdienst weiß: Er muss die Leute woanders hinbringen. Sind alle internistischen Betten besetzt, dürfen wir auch Betten auf anderen Stationen internistisch belegen, da es ja nur an Pflegekräften mangelt, nicht an Ärztinnen und Ärzten (wie ich heute allein im Arztzimmer auch feststelle). Früher hieß es: maximal sechs Patienten auf anderen Stationen. Jetzt: unbegrenzt, solange irgendwo ein Bett im Haus frei ist, darf nicht abgemeldet werden. Das heißt für den Dienstarzt: um jedes Bett feilschen, denn die Pflege auf den fremden Stationen ist nicht begeistert von unseren mutlimorbiden, pflegebürftigen Patientinnen und Patienten. Da hat man sich für einen ruhigen Arbeitsplatz auf der HNO entschieden, wo vor allem junge Menschen nach Tonsillektomien oder Schnarch-OPs für einen Tag versorgt werden müssen, und dann kommen die Internisten mit ihren inkontinenten, dementen Patienten daher. Klar wird da erst mal geblockt. Verstehe ich auch. Aber Anweisung ist Anweisung. Und durch die Abmeldung in der Zentrale ist man nicht vor Fußgängern geschützt, für die dann eventuell kein Bett mehr frei ist und die dann extrem zeitaufwendig und nicht immer patientenfreundlich in andere Häuser verlegt werden müssen. So ein Stress!

Wieso machen die das?

Das Klinikum hat finanzielle Probleme. Sie gucken sich an, wo können wir sparen, was können wir ändern und sehen: Aha, die Überstunden in Rücklage! Also halten wir unser Personal mal an, weniger Überstunden zu machen. Check.

Sie sehen weiter: Aha, die gesperrten Betten! Aber da geht noch was, wir lassen ab jetzt kein Bett mehr frei! Check.

Ist ja alles ganz einfach und logisch. Wer mehr Umsatz will, muss ganz einfach das Bestandspersonal noch mehr auswringen. Das standhafte Personal, das noch nicht eingeknickt ist, das noch nicht im Krankenstand wegen Burnout ist, die halten das schon aus.

Und ich Banause dachte immer, wer mehr Umsatz will, braucht mehr Personal. Aber für soziale Berufe scheinen andere Regeln zu gelten.

Der Computer piepst, das Thoraxbild von Frau H. erscheint. Ich glaube, diese seltsame Struktur ist nur Weichteilüberlagerung.

PS: Mir ist klar, dass das alles nicht ganz so einfach ist. Aber so fühlt es sich für uns da ganz unten an.

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