“Sobald Sie einen Fuß in diese Notaufnahme setzen, Frau S., befinden Sie sich in meiner Verantwortung. Sie geben quasi mit Ihrer Krankenkassenkarte die Handlungsmacht über Ihre Gesundheit in unsere Hände ab. Rechtlich gesehen muss ich ab diesem Moment eine Latte an Untersuchungen durchführen und das alles in einem Arztbrief ordentlich dokumentieren, bevor ich Sie wieder gehen lassen darf. Und das darf ich auch erst tun, wenn ich nach gründlicher Untersuchung Ihres Gesundheitszustandes der fachlichen Meinung bin, dass Sie keine stationäre Behandlung brauchen oder es irgendetwas in Ihrem Körper gibt, was Ihr Hausarzt weiter behandeln muss. Das dauert im Schnitt 2 Stunden. Erst dann darf ich Sie mit Brief in der Hand wieder in Ihre Eigenverantwortung entlassen.”
Wow – diesen Satz müsste ich eigentlich jedem Patienten in der zentralen Notaufnahme, der ZNA, zu Begrüßung sagen; zumindest jedem U-85-Patienten.
“Aber mein Mann… Ich kann ihn nicht alleine lassen, wissen Sie, ich war mal zwanzig Minuten weg und da fand ich ihn auf dem Boden, bäuchlings, weil er so dringend pieseln musste, er hat es einfach nicht mehr ausgehalten… Seit zwölf Jahren pflege ich ihn. Wissen Sie, seit zwölf Jahren! Ich liebe ihn so. 49 Jahre sind wir verheiratet. Vier Mal hat’s ihn erwischt, vier Mal hat’s zugeschlagen und seither pflege ich ihn. Wir haben einen Rhythmus, morgens hol’ ich ihn und dann frühstücken wir… “
Es bröckelt in mir. Die Distanz, die Härte mit der ich meinen letzten Satz herausgebracht habe, und die ich zum Durchhalten brauche – bröckelt.
“Frau S, und wenn mit Ihnen wirklich mal was ist? Wie alt sind Sie? Irgendwann müssen Sie wirklich mal ins Krankenhaus und stationär bleiben. Was dann?” Ich habe mich neben sie auf die Liege gesetzt. Das darf ich nicht, wegen der Hygiene. Ich kann einfach nicht mehr. Sie sagt mir nicht, wie alt sie ist. Alt. Drahtig. Kurze, graue Haare, und ein Adlerblick, der nun bricht.
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“Dann muss er ins Pflegeheim… Dann nehm ich ihn mit! Unser Hausarzt hat gesagt, dann weist er uns zusammen ein!”
Der Hausarzt denkt nicht an den MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen, die Kontrollinstanz, die uns auf die Finger guckt, dass wir auch ja keine unnötigen Behandlungen machen).
Es ist ein System, sage ich zu mir, es funktioniert schon zwölf Jahre, ach was, 49 Jahre – die ganze Ehe. Lass es. Du wirst sie nicht mehr emanzipieren.
“Darf ich noch mal kommen?”
“Okay, ich sehe Ihre Not. Wenn Sie mir unterschreiben, dauert es nur zehn Minuten. Sie unterschreiben mir, dass Sie die ärztliche Behandlung ablehnen und ich bin rechtlich aus dem Schneider.”
“Und wenn’s wieder kommt? Darf ich dann noch mal kommen?” fragt sie verunsichert. Darum geht’s ihr also.
“Ich bitte Sie darum! Sie müssen mir sogar versprechen, dass Sie das tun! Dass sie gut auf sich achten und bei den kleinsten Zeichen einer Schwellung im Hals den Rettungswagen rufen.”
Sie berichtet. Vor ein paar Wochen hatte sie eine Blutvergiftung am Bein (Erysipel, korrekt übersetzt als Unterhautfettgewebsentzündung), daraufhin habe sie Penicillin bekommen und zwei Tage später allergisch darauf reagiert.
“Wissen Sie, bei mir dauert das eben länger! Und wenn der Bienenstich jetzt erst heut’ Nacht oder morgen zuschwillt? Weil, bei mir dauert das eben immer!”
“Moment, wo war Ihr Mann, als Sie die Blutvergiftung hatten?” Ich verzichte darauf, ihr zu erklären, dass die allergische Reaktion auf Penicillin eine Typ IV Reaktion ist, die immer erst 48 Stunden nach Einnahme auftaucht.
“Na, ich war bei ihm, ich war daheim.” Ach, ambulant behandelt. Mannomann. Und jetzt hat sie Angst vor einer allergischen Reaktion auf den Bienenstich. Die Reaktion auf das Penicillin muss heftig gewesen sein.
Etwas stört mich. Sie drängt auf Entlassung. Sie weint und erzählt von ihrem Mann, der sie so braucht. Mir kommen die Tränen. Ich breche das Gespräch ab und verstecke mich hinter meinem Computer. Die Tränen rollen. Der Pfleger sitzt mir gegenüber, die Arbeitsplätze sind so aufgebaut, dass es nur einen kleinen Spalt zwischen Riesendrucker und Monitoren gibt, durch den man Briefe, Blut oder Blicke austauschen kann. Er hat einen Blick auf mich erhascht. Ich reiße mich zusammen, suche die “Entlassung gegen ärztlichen Rat” im gähnend langsamen System.
Alles auf einmal
“Lilli?” Moni, eine Pflegerin, steht plötzlich neben mir. “Du musst kommen, die Palliativpatientin hat versucht, sich zu erdrosseln, ihr geht es echt nicht gut.”
“Hm, ich komme gleich”, höre ich mich sagen. Ihre Worte dringen nicht zu mir durch. Noch vier Nadeln oben auf der Station legen, auf der HNO einen Medikamentenplan eintippen, eine Patientenverfügung für die Intensivstation überfliegen und richtig interpretieren, also die Verantwortung für den AND-Kleber übernehmen (allow natural death, Ablehnung jeglicher lebenserhaltender Medikamente und Maschinen), dem Ukrainer auf der Med 1 klar machen, dass er in einen Becher pieseln soll und dass sich seine Unterhose nicht im Nachbarzimmer sondern im Schrank neben seinem Bett befindet. Die Sache mit dem Staph. aureus in der Blutkultur bei dem 35-jährigen Patienten mit Lungenembolie überdenken – das passt doch nicht zusammen! Eine TVT (tiefe Venenthrombose) wartet auf Zimmer neun, neben der anderen allergischen Reaktion. Ach, verdammt, der andere Patient mit der Lungenembolie, den hätte ich doch entlassen müssen! Der wartet auf seinen Brief.
Mein Notizzettel, wo ist der jetzt? Ich will einmal durchatmen und alles sammeln.
Telefon: “Hast du von dem Schockraum A gehört, der jetzt kommt? Ein junges Mädchen, 16 Jahre alt…”
“Nein”
Es ruft an die Anästhesie. Der Schockraum ist doch chirurgisch. Ich kapier’s nicht.
“Ja, chirurgisch ist sie angemeldet, aber du hast doch die Intensivstation für Neuaufnahmen geschlossen.” Ein Schockraum kommt folgerichtig nach Erstbehandlung auf Intensivstation.
“Nein, ich habe nur internistisch-intensiv abgemeldet, weil wir Internisten nächste Woche unterbesetzt sind und nur vier Betten belegen dürfen. Aber eben ist eine Patientin von der Intensiv- auf Normalstation gegangen, es sind also nur noch drei und ich habe wieder geöffnet.”
“Aha, okay.” Zögern. “Kann ich dich dazu rufen, wenn sie was internistisches hat?”
“Klar doch!”
Bitte, bitte nicht!
“Ich will raus hier!”
“Lilli?”
“Ja! Moni, ich komme”. Erdrosselt? Palliativ? Ich springe auf, laufe an Frau S. vorbei, drehe auf dem Absatz um, kritzele meine Standardhieroglyphen auf den Bogen “Entlassung gegen ärztlichen Rat”, weil man ja immer etwas handschriftlich dazu schreiben muss, drücke ihr das Blatt mit den Worten: “Versprechen Sie mir, dass Sie ohne Zögern wieder kommen, wenn es zuschwillt” in die Hand. Ja. Memo an mich: Brief für Frau S. schreiben und nachschicken lassen. Es regt sich wieder etwas in mir. Etwas stört mich.
Und ich stehe bei der 92jährigen Palliativpatientin im Zimmer.
“Lassen Sie mich raus! Ich will raus hier!”
“Wohin raus?”, frage ich.
Ihr Blick geht gen Zimmerdecke. “Na, da. Nach da oben.”
Meine Vermutung, dass es “raus aus diesem Körper” heißt, war also richtig.
“Geben Sie mir eine Tablette.” Der flehende Blick, glasklar. 92 Jahre alt, palliativ. Sie verweigert alle Tabletten, sie hat Schmerzen. Frau W, Funktion unbekannt, sitzt am Bett und setzt voraus, dass “Frau W” reicht, nachdem ich mich mit Lilli K. – Dienstärztin vorgestellt habe.
“Gib ihr Morphin.” Moni. “Die Nadel ist para.” Heißt: Morphin unter die Haut spritzen, weil der venöse Zugang nicht funktioniert. Ich hasse Morphin und seine Derivate mit all ihren Applikationsarten und Dosierungen. In meinem Kopf taucht MO 2,5mg s.c. auf. Quelle nicht lokalisierbar.
W: “Sie will sich die Nadel immer ziehen, damit sie verblutet.”
Ich denke. Genauer: Ich stehe da. Sie fleht mich an. “Irgendeine Tablette, raus hier!” Ich darf das nicht. Aber was will sie noch hier drinnen, die arme Patientin? Ich finde auch, dass sie raus gehört. Wenigstens diesmal keine Tränen, dieses Thema ist weit genug weg von mir.
Ich weiß nicht einmal, welche Krankheit sie hat.
Wer übernimmt die Nacht?
Telefon: Externe Nummer auf das nicht Dienst- sondern Intensivstationtelefon, das wir auch immer bei uns tragen müssen. Denn wir sind im Dienst für zwei Stationen, die Notaufnahme und die Intensivstation zuständig. Allein. Auf das Intensivtelefon ruft nur der Ober- oder Chefarzt an.
“Ja, Lilli hier”. Er ruft an wegen der Nacht. Auch darum musste ich mich heute kümmern: Wer die Nacht übernimmt, weil der Kollege sich krank gemeldet hatte. Hexenschuss. Momentan zwei chronisch krankgemeldete, zwei im Urlaub und zwei akut krank. Jetzt drei. Nächste Woche sind wir also nur zu dritt, zwei davon im Wechsel im Nachtdienst und einer allein auf allen Stationen. Halleluja.
“Ja, P. hier. Ich habe Linda erreicht, und sie hätte fast losgeheult am Telefon“ – Linda ist die letzten Nächte eingesprungen, nachdem sie auf ihren Urlaub verzichtet hatte, obwohl sie Besuch hat, für den sie kochen und backen musste – “Merve sagt, sie könne die Nacht heute übernehmen, aber est ab 22:00. Jetzt muss ich einen aussuchen. Ich muss ja den Laden am Laufen halten, und dafür suche ich mir den stabilsten Assistenten aus, der nicht am Telefon heult.”
Lilli, reiß dich zusammen, jetzt nicht heulen.
“Also Merve”, antworte ich mechanisch.
“Ja. Ist das gut für dich?” Wieso fragt er mich das? Gut wäre jetzt mein Bett und meine Katze für mich.
“Naja, gut ist was anderes, aber ich halte schon durch bis 22:00” (Statt 20:00). Ich habe meine starke Maske aufgesetzt, die von sämtlichen Oberärzten (explizit männliche Form !!!) der Generation 48-Stunden-Dienste-Normalität gefordert wird. Zumindest geben sie uns das Gefühl. Ich heule nicht.
“Das habe ich wohl falsch formuliert, das kommt aus dem Schweizer-Deutschen und meint auf Bayerisch: Passt scho, oder?”
“Das passt.” Es folgt ein bisschen Geplänkel über Schweizerdeutsch, Bayerisch und Hochdeutsch (mein persönlicher Favorit), während ich selber wundere, womit ich gerade meine Zeit verschwende.
Darf ich das?
Dann widme ich meine Gedanken wieder der suizidgefährdeten U-100 Dame.
Impulsiv öffnet sich in meinem Kopf die Palliativschublade und Nadine schaut heraus. “Es gibt kein Ausreizen der Morphindosierung im palliativen Setting.” Also traue ich mich: MO 2,5mg s.c. ist meine Entscheidung. Im schlimmsten (besten?) Falle hört sie auf zu atmen und schläft ein. Die Gedanken an die rechtlichen Konsequenzen drücke ich weg.
Später ist sie ruhiger und ich werde wieder zu ihr gerufen, um ihr eine Nadel zu legen. Sie braucht ja noch ihr Antibiotikum! Braucht sie das? Hat sich einer mal Gedanken darüber gemacht, ob eine 92 alte, vollkommen geistig klare Dame, die “raus” will, Antibiotikum braucht? Müde, mechanisch mache ich mich ans Werk. Aber es mag nicht gelingen. Ich bin ein guter Nadelleger, aber etwas sträubt sich.
Darf ich das? Darf ich es einfach lassen? Ich lasse es, denn es ist 22:00 Uhr und meine Kollegin übernimmt.
Übergabe. Ich übergebe mich.
Nach 15 Stunden Dienst sitze ich mit einem Tee im Bett und starre auf meine Knie. Frau Palliativ hat keine neue Nadel bekommen mit der rechtlich bombensicheren Begründung, dass sie dann wieder versuchen könnte, sich mit dem Infusionsschlauch zu erdrosseln. Und davon muss man eine 92jährige Palliativpatienten ohne Lebenswillen ja unbedingt abhalten.
Frau S. braucht Hilfe. Sie kam nicht wegen des Bienenstichs! Sie braucht Hilfe, ihr System fängt an zu bröckeln und sie merkt es, kann aber nicht loslassen. Ihre Vorstellung in der Notaufnahme war ein Hilferuf. Und ich habe sie nach Hause geschickt. Ich hoffe, sie hat ein gutes soziales Netz.
Am nächsten Morgen wache ich auf und denke an die Kinder. Sie sind bei ihrem Vater, der eigentlich auch Hilfe braucht. Aber nicht von mir – nicht mehr. Ich mache mir Sorgen.