Mediziner auf Abwegen – Teil 2: Der Polararzt Dr. Eberhard Kohlberg

Arzt, Logistikmanager, Mediator - als Mediziner in der Antarktis hatte Dr. med. Eberhard Kohlberg viele Aufgaben. © Hinnerk Heck
Nach seiner Facharztausbildung in der Chirurgie wollte Eberhard Kohlberg eigentlich Entwicklungshilfe in Afrika leisten. Dann entdeckte seine Frau im Ärzteblatt eine Stellenanzeige des Alfred-Wegener-Instituts und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Nach dem Studium in Köln und Bremen und der Promotion entschied sich Eberhard Kohlberg gegen den Krankenhausdienst in Delmenhorst und für die Überwinterung in der Antarktis. Überwinterung heißt: Von März bis November mit den gleichen neun Menschen auf einer Forschungsstation leben, umgeben von Eis, Kälte und Wind. Dass der heute 70-jährige Abenteurer dennoch keinen seiner Aufenthalte in den letzten 29 Jahren bereut, erkennt man daran, wie begeistert er von der Zeit auf der Polarstation erzählt.

Operation Karriere: Herr Dr. Kohlberg, kann man in der Antarktis die gleichen Medikamente verwenden, wie in einem Klinikum in Deutschland?

Dr. Kohlberg: Ampullen kann man nicht so einfach auf dem Schlitten mitnehmen, die könnten gefrieren. Man muss den Transport der Medikamente in die Antarktis temperaturkonstant organisieren. Das ist aber kein Problem. Medikamente werden im Schiff im Kühlcontainer transportiert und dann im beheizten Hospital aufbewahrt. Es können alle Medikamente verwendet werden, die wir so auch in Deutschland kennen.

Das erste Mal haben Sie auf der Antarktis im Jahr 1989/1990 überwintert. Später haben Sie die Neumayer-Station III mitaufgebaut. Welche medizinischen Geräte gibt es im Stationshospital in der Antarktis?

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Dr. Kohlberg: Abgesehen von endoskopischer Chirurgie haben wir alle Gerätschaften, die auch eine Klinik vorhält, um eine OP zu machen. Wir haben ein Narkosegerät, wir haben einen C-Bogen, wir haben ein digitales Röntgengerät, ein Ultraschall-Gerät, wir haben Defibrillator-Monitoring-Systeme, mit denen wir übertragen können. Wir haben ein komplettes Instrumentarium herkömmlicher Art zum Operieren. Die Traumatologie wird allerdings überwiegend konservativ gemacht, mit Schienungen oder dergleichen nach alter Väter Sitte, aber das ist dort nicht anders machbar. Wir haben auch einen großen Steri dort, wo wir alles sterilisieren können. Es ist alles vorhanden.

Wie viele Personen arbeiten in der Forschungsstation des Alfred-Wegener-Instituts? 

Dr. Kohlberg: Im Sommer sind es bis zu fünfzig Personen, die dort arbeiten. Im Winter sind es nur neun. Man muss dabei aber auch immer bedenken: Es sind neun Monate, in denen die Menschen, die überwintern, von der Außenwelt abgeschnitten sind. Da geht normalerweise kein Flugzeug und kein Schiff rein. Und dann muss der Arzt eben ein gewisser Allrounder sein.

Als Vorbereitung auf den Einsatz in der Eiswüste absolvieren die Teilnehmer eine Schulung in den Alpen. Was hat es damit auf sich? 

Dr. Kohlberg: Die Alpenschulung dauert eine Woche, dieser Trip ist für das Überwinterungsteam gedacht, also für die neun Leute. Im Sommer sind ja viele Wissenschaftler und Techniker da, die nur ein paar Wochen oder einige Monate bleiben, und dann geht es zurück. Aber die Überwinterer sind 13 bis 14 Monate dort. Sie fliegen jetzt im Dezember runter und bleiben dann bis Februar 2020 vor Ort. Von März bis November sind sie alleine.

Was genau wird bei dem Training in den Alpen denn gemacht?

Dr. Kohlberg: Zum einen ist es ein Sicherheitstraining auf dem Eis. Wie kann man jemanden aus einer Gletscherspalte ziehen, wenn er einbricht? Dann guckt man in dieser Woche aber natürlich auch, wie die Leute zusammen arbeiten, wie die Gruppendynamik ist. Es gibt Leute, die meinen, sie müssen sich vor der Gruppe profilieren. Die passen dann unter Umständen nicht in einen solchen Gruppenrahmen hinein. Oder Einzelgänger, die sich absondern. So etwas muss man herauskriegen. Das gelingt auch relativ gut mit diesem einwöchigen Kurs.

Wie viele Leute werden während des Kurses aussortiert?

Dr. Kohlberg: Wir versuchen niemanden auszusortieren, aber es kommt natürlich vor. In den letzten drei Jahren waren es immer ein bis zwei Personen, die noch gewechselt haben. Aber das ist nicht unser Ziel. Eigentlich wählen wir die Leute vorher im Auswahlverfahren aus. In dem Entscheidungsgremium sitzen Leute, die selbst überwintert haben. Die wissen, wie das ist. Wir versuchen die Gruppe also vor dem Bergkurs zusammenzustellen, so dass nicht mehr ausgesondert werden muss. Aber das klappt eben nicht immer.

Gibt es Sonderzuschläge, wenn man auf der Antarktis arbeitet? Welchen Vertrag bekommt man?

Dr. Kohlberg: Die Vor- und Nachbearbeitungszeit in Deutschland wird man nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes bezahlt. Mit Betreten des Eises gibt es einen steuerfreien und nicht unerheblichen Sonderzuschlag im vierstelligen Bereich.

Kann man als Medizinstudent eine Famulatur oder ein PJ in der Neumayer-Station III machen?

Dr. Kohlberg: Nein, das geht nicht. Unsere Plätze sind limitiert. Man muss auch sagen, wir haben keinen Krankenhausbetrieb, insofern bringt das auch nichts.

Auf dem 121. Deutschen Ärztetag wurde beschlossen, Telemedizin verstärkt zu verwenden. Auf der Antarktis ist diese Behandlungsweise längst Alltag. Wann haben Sie die Telemedizin dort eingeführt?

Dr. Kohlberg: Das war in den Jahren 2005/2006.

Wie läuft so eine telemedizinische Behandlung ab? Wann konsultieren Sie das Kontaktkrankenhaus in Bremerhaven?

Dr. Kohlberg: Bei Blinddarmoperationen oder im Rahmen einer Knöchelfraktur haben wir uns mit den Kollegen in Bremerhaven kurzgeschlossen. Die Telemedizin ist nicht nur eine Konsultation, sondern eine regelrechte Überwachung des Patienten. Sämtliche Parameter laufen auch in der Intensivstation in Bremerhaven. Da sitzt der Arzt davor und kontrolliert die Narkose mit. Er gibt Anweisungen, welche Medikamente verabreicht werden müssen, was zu machen ist, so dass der Operateur mehr den Kopf für die Operation frei hat und sich nicht auch noch um die Narkose kümmern muss.

Auf der Neumayer-Station III leben und arbeiten lange Zeit also nur neun Menschen in einer lebensfeindlichen Umgebung. Wie muss man sich die Atmosphäre vorstellen? Förmlich oder doch eher wie in einer großen WG?

Dr. Kohlberg: Eher Letzteres. Es ist mehr eine große WG. Es ist eine Zusammensetzung aus verschiedenen Disziplinen, es sind Tierwissenschaftler dabei, ein Arzt, ein Koch, ein IT-Ingenieur ist vor Ort. Wir machen ja das ganze Jahr Wissenschaft dort unten, nicht nur im Sommer. Deshalb brauchen wir Experten aus verschiedenen Bereichen. Der Arzt ist inzwischen Stationsleiter, weil wir sagen, wenn jemand Facharzt für Chirurgie ist, hat er eine gewisse Berufserfahrung und Menschenkenntnis. Und weil er als Mediziner hoffentlich keine großen Dinge vollbringen muss, besitzt er die zeitlichen Kapazitäten, um die Station zu leiten.

Ist man als Arzt auch eine Art Mediator?

Dr. Kohlberg: Ja. Natürlich gibt es immer wieder Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten. Normalerweise wird immer versucht, das vor Ort zu lösen. Problematisch wird es, wenn man jemanden hat, der mit der Isolation nicht zurechtkommt. Die schwierigen Fälle sind jene, die vor irgendeinem Problem geflüchtet sind. Da kommt dann die psychische Betreuungssituation hinzu. Es gibt aber bei allen Personen, die überwintern, das Third-Quarter-Phänomen, das sich zum Ende des Winters, also im August, Anfang September, zeigt. Das ist ganz typisch und in vielen Arbeiten beschrieben. In diesem Zeitraum führen Banalitäten zu Streitigkeiten, die in Deutschland überhaupt kein Gewicht hätten, wie etwa ein unsauber hinterlassener Esstisch.

Hängt das auch mit der Dunkelheit im August zusammen? Wenn es wochenlang nur wenig Licht gibt, hat das ja ebenfalls Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.

Dr. Kohlberg: Wir machen zusammen mit der Weltraummedizin Untersuchungen zu diesem Thema und wir sehen schon, dass die kognitive Funktion in dieser Zeit ein bisschen runtergeht. Da ist einfach eine gewisse Trägheit da. Das hängt bei einigen sicherlich mit der Dunkelheit zusammen, wobei die meisten immer sagen: „Ich habe die gar nicht als so schlimm empfunden.“ Ich selbst fand sie auch nicht so schlimm. Es ist ja auch nicht so, dass es 24 Stunden lang rabenschwarze Nacht ist. Man sieht die Sonne zwar über zweieinhalb Monate nicht, aber man hat um die Mittagszeit eine Dämmerungsphase. Vielleicht hängt die psychische Mattheit auch mit einer verminderten Vitamin D-Produktion zusammen. Denn der Vitamin-D-Spiegel im Blut geht in diesem Zeitraum deutlich herunter, das haben wir nachgewiesen.

Würden Sie sagen, die Einsätze dort haben Ihren Charakter verändert?

Dr. Kohlberg: Naja, man nimmt immer etwas mit. Wir haben mal eine Untersuchung dazu gemacht, wie es hinterher ist, wenn man zurückkommt. In den meisten Fällen sagten die Befragten, sie würden den Aufenthalt als eine positive Lebenserfahrung einstufen. Denn man muss auch mit schwierigen Situationen zurechtkommen, und zwar nicht nur mit zwischenmenschlichen, sondern auch mit praktischen, wenn zum Beispiel ein Fahrzeug auf dem Eis eine Panne hat. Durch solche Situationen lernt man, gelassener zu werden.

22 Mal hat Dr. Eberhard Kohlberg für das Alfred-Wegener-Institut (AWI) auf der Polarstation gearbeitet, dabei waren im Jahr 1989 und 1999 auch zwei lange Aufenthalte von je 14 Monaten. Zuletzt leitete Dr. Kohlberg in den Sommermonaten als Logistikmanager und Medical Officer die Neumayer-Station III. In diesem Jahr hat der heute 70-jährige Arzt und Abenteurer höchstwahrscheinlich seine letzte Reise in die Antarktis unternommen. So bleibt Zeit für ein anderes großes Hobby: Das Segeln, am liebsten mit der Familie. 

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