Schon für deutsche Studierende ist das 2. Staatsexamen (M2) das „Hammerexamen“. Wie es wäre, dieses in einer vollkommen fremden Sprache abzulegen, wagt man sich gar nicht erst vorzustellen. Genau das haben die 23 Medizinstudierenden geschafft, die Mitte Februar in Frankfurt gelandet sind, um nun hier ihr Praktisches Jahr (PJ) in deutschen Kliniken und Krankenhäusern zu beginnen.
Sie haben an der Pham Ngoc Thach-University of Medicine (PNTU) in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, Medizin studiert, deutsch gelernt und das vom Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) in Mainz konzipierte 2. Deutsche Medizinexamen erfolgreich bestanden. Die angehenden vietnamesischen Ärztinnen und Ärzte zählen zu den ersten Jahrgängen, die den Erfolg eines Ausbildungstransfermodells bestätigen, das als Vision begann und nun stetig neue Jahrgänge von Medizinstudierenden aus Vietnam das Absolvieren der hiesigen Medizinerausbildung ermöglicht.
Duc Minh Tam Nguyen, eine Art Klassensprecherin der Gruppe aus Vietnam, ist wie die anderen nach der langen Reise froh, dass trotz Coronapandemie der Austausch klappt und sie in Deutschland willkommen sind. Neben der Angst vor dem kalten deutschen Wetter treibt sie das Sprachproblem um: „Kann ich mit den Deutschen, insbesondere mit den Patienten kommunizieren?“, zählt zu ihren wichtigsten Fragen, die ihr und ihren Mitstudierenden im „Kopf stecken“. Nicht zuletzt YouTube-Videos („Easy German“) sind hier ein Mittel der Wahl, um dies zu meistern.
Sie werden zum PJ auf den Verbund der Kliniken in Braunschweig, Wolfsburg, Wolfenbüttel und das Herzogin Elisabeth Hospital Braunschweig verteilt werden. Das kommt nicht von ungefähr. Denn die Idee zu diesem Austausch nahm vor etwa zehn Jahren ihren Ursprung in dieser Region. Das ambitionierte Vorhaben verdankt seine Geburtsstunde zum einen den Reformwünschen des Ministeriums für Bildung und Erziehung und des Gesundheitsministeriums in Hanoi. Es war das erklärte Anliegen der vietnamesischen Behörde, verstärkt mit internationalen medizinischen Fakultäten zu kooperieren, um die Ausbildung der Ärzte zu verbessern.
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Zum anderen kamen entscheidende Impulse von Dr. med. Si Huyen Nguyen, der bereits 1970 als Student nach Deutschland kam und an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main Medizin studierte. Er ist zur Zeit leitender Oberarzt an der kardiologischen Abteilung der Helios St. Marienberg Klinik in Helmstedt, nahe Braunschweig, außerdem Präsident des Deutsch-Vietnamesischen Förderkreises für Kardiologie. Und er hat bei mehreren Entwicklungshilfeprojekten für Mediziner in Vietnam mitgewirkt.
Gegründet wurde die gemeinsame Vietnamese German Faculty of Medicine (VGFM) im März 2013, als schließlich die Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und die Pham-Ngoc-Thach-Universität in Ho-Chi-Minh-Stadt vereinbarten, dass jedes Jahr eine Gruppe von etwa 30 bis 50 Studierenden der Pham-Ngoc-Thach-Universität nach dem medizinischen Lehrplan der Johannes Gutenberg-Universität Mainz unterrichtet wird. Deshalb reisen seither regelmäßig deutsche Dozenten und Medizinprofessorinnen für unterschiedliche Fächer aus Mainz (aber auch aus anderen Städten Deutschlands) nach Ho-Chi-Minh-Stadt. Es werden außerdem in Mainz seit mehreren Jahren vietnamesische Lehrkräfte ausgebildet, um diesen Unterricht teilweise übernehmen zu können.
„Ich habe mich damals gefragt, wie ich mein Land unterstützen kann, um Anschluss an ein internationales Level in der Medizin zu finden“, sagte Dr. Nguyen beim Besuch der Fakultät in Ho-Chi-Minh-Stadt im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt Medizin studieren. Für Nguyen, der auf deutscher Seite die VGFM als Vizedekan vertritt, war es von Anfang an wichtig, Ärzte nicht erst nach ihrer Ausbildung spezielle Fertigkeiten – etwa endoskopische Verfahren oder Operationstechniken – erwerben zu lassen. „Ich bin der Meinung, dass schon im Studium Grundlagen gelegt werden müssen, die das Niveau der europäischen Medizinerausbildung ausmachen“, sagt er. „Das lässt sich nicht durch das Erlernen isolierter Fertigkeiten ersetzen.“ 2013 nahm dieses Ausbildungs-Joint-Venture schließlich Gestalt an: In Mainz fanden sich die Partner, die den Export ihres Curriculums nach Vietnam unterstützten – getragen vor allem vom Engagement derjenigen, die seither immer wieder Unterricht an der Partneruniversität übernehmen. Es ist nach wie vor ein deutschlandweit einzigartiges Kooperationsprojekt.
Inzwischen hat der zweite Jahrgang von Medizinstudierenden der VGFM, die zur normalen medizinischen Lehranstalt der Universität gehört, das M2-Examen geschafft. Die Gruppe, die sich im Februar am Frankfurter Flughafen versammelt hatte, zählt wie auch die übrigen Jahrgänge zur Elite. Sie müssen nicht nur die Hürde eines Medizinertests nehmen, der auch in Vietnam überaus anspruchsvoll ist. Sie müssen dabei auch noch besonders gut abschneiden und sich mit guten Englischkenntnissen zusätzlich qualifizieren. Dazu kommt Deutsch als Pflichtfach. Die Erfahrungen waren von Anfang an positiv – schon die ersten Jahrgänge brillierten im Physikum – nicht nur im Mündlichen. Die schriftlichen Physikumsfragen des IMPP können sie zwar noch in einer vertrauteren europäischen Fremdsprache meistern, weil hierfür das IMPP-Physikum ins Englische übersetzt wird. Diesen Luxus gibt es beim M2-Examen nicht mehr, dass muss auf Deutsch bestanden werden. 85 Prozent derer, die antreten, schaffen das auch.
Die Vorlesungen sind ab dem vierten Studienjahr auf Deutsch, als Sprachverständnisniveau der Studenten wird C1 vorausgesetzt. Das deutsch-vietnamesische Studium verlangt den Kandidaten deutlich mehr ab als anderen Medizinstudenten hüben wie drüben. Dazu zählen nicht nur die Deutschkenntnisse, die bereits äußerst flüssig sind, wie Gespräche mit dem ein oder anderen zeigen. Von mehreren Tausend Schülern, die sich pro Jahr um einen Medizinstudienplatz an der Pham-Ngoc-Thach-Universität in Ho-Chi-Minh-Stadt bewerben, werden nur rund 1.300 aufgrund eines bestandenen Eingangstestes angenommen.
Von diesen wiederum kann nur ein Bruchteil nach Mainzer Curriculum studieren. Aber selbst das garantiert nicht immer den Erfolg. „Einige geben auch auf, weil die Anforderungen wirklich sehr hoch sind“, wie Tran Phan Nguyet Hang zugibt. Der Traum, in Deutschland Medizinkenntnisse zu erwerben, sei so oder so der stärkste Antrieb. In die Vereinigten Staaten, die mit ihrem Medizinertest für Ausländer weltweit ihre eigenen Standards setzen, wolle man dagegen eher nicht.
Deutschland stehe hier in Sachen Ausbildung nämlich ganz oben auf der Wunschliste. Für die Studentin Phan Diep Bao Tran ist es die Möglichkeit, „Zugang zu fortgeschrittener Medizin zu erhalten und meinem Land später als globale Ärztin zu helfen“, so ihr O-Ton auf die Frage: „Warum Deutschland?“ Ihr war Medizin schon in die Wiege gelegt, denn: „Meine Mutter ist Hausärztin, mein Vater ein Gerichtsmediziner.“ Auch bei Thi Tuyet Ngan Ho kam der Wunsch, Medizin zu studieren, von der Mutter. Diese konnte als Ärztin die Kinder medizinisch selbst versorgen, was auf die junge Ngan Ho einen starken Eindruck gemacht hat. Dass sie nach Deutschland kommt, hat aber mit einem anderen deutschen Exportschlager zu tun: „Mein Interesse an Deutschland hat im Jahr 2014 begonnen, mit der Fußballweltmeisterschaft.“ Die deutschen Fußballer hätten sie in puncto Technik und Solidarität begeistert, so Ngan Ho. „Ich habe auch damals das erste Wort auf Deutsch gelernt: die Mannschaft“ – so ihr wichtigstes Fazit. Ihr Facharztwunsch wurde ebenfalls von einer Frau geprägt: Anästhesie – weil eine Narkoseärztin sie einst bei einer Weisheitszahnoperation so gut getröstet hatte. Auch für Tran Phan Nguyet Hang ist mit der Ankunft in Frankfurt ein Traum in Erfüllung gegangen. Sie hat zur Vorbereitung eifrig andere Kommilitonen, die schon letztes Jahr zum PJ nach Deutschland gekommen waren, um Tipps gebeten: Neben der Sprachbarriere empfinden die angehenden Ärzte aus Vietnam wohl auch die Unterschiede in der Mentalität als eine gewisse Barriere und bekennen freimütig, warum: „Die Deutschen sind direkt und ehrlich. Sie helfen gern, aber nur, wenn man direkt sagt, dass man Hilfe braucht“, so Tran Phan. „Die Vietnamesen finden es im Gegenteil unhöflich, wenn sie direkt Hilfe fordern“, lautet ihre Einschätzung.
Das ist Nguyen nur zu bewusst, der als schon lange in Deutschland lebender Vietnamese diese Einstellungen kennt und berücksichtigt. Ohne seine organisatorische Unterstützung, das brachten die vietnamesischen PJ-ler denn auch zum Ausdruck, wären sie jetzt nicht hier.
Die Kliniken in der Braunschweiger Region sehen dem Assistenzarztnachwuchs optimistisch entgegen. Bisher hat man mit der ersten Generation von Absolventen der VGFM, die hier ihren Facharzt anstreben, nur die besten Erfahrungen gemacht. Die Neuen – Duc Minh Tam Nguyen und ihre Kommilitonen – sind ihrerseits einfach dankbar und glücklich darüber, dass sie ihr Medizinstudium mit dem PJ hier in Deutschland abschließen und im Anschluss die lang erwünschte Facharztweiterbildung antreten dürfen. Ihr langfristiges Ziel ist es, später die Patienten in Vietnam besser versorgen zu können.