Mit zwei großen Säcken bestückt verlasse ich auf Zehenspitzen die Wohnung. Ein Sack kommt in die Mülltonne, der andere in die Waschmaschine, die im Keller steht. Ich darf sie bloß nicht verwechseln, die Säcke. Es ist doch erst 6:20 Uhr, da kann so etwas schon mal passieren. Gestern Abend habe ich alles fein säuberlich vorbereitet: Meine Kleidung, meine Tasche mit Kittel und Stethoskop, die Schmutzwäsche. Ja sogar die Tasse für meinen morgendlichen Tee habe ich herausgestellt, um nicht unnötig laut zu klimpern, während meine Familie noch schläft. Das ist reiner Eigennutz, denn nur solange die Kinder schlafen, kann ich mich in Ruhe fertig machen!
Jetzt sitze ich auf meinem Fahrrad unterwegs zum Blockpraktikum Gynäkologie. Vierzig Minuten fahre ich zur Uni und genieße es in vollen Zügen. Vierzig Minuten allein, nur ich, meine Gedanken und die frische Frühlingsluft. Reiner Luxus. Die drehende Bewegung meiner Beine kurbelt meine Gedanken an.
Zukunftsscheu
Vor Kurzem bin ich beim Lesen eines Artikels über Medizin und Familie über folgende Frage gestolpert: Hindern die schlechten Bedingungen oder die fehlende Motivation Frauen daran, als Ärztin in der Klinik Karriere zu machen?
Ich sage: Die schlechten Bedingungen demotivieren. Ich liebe das Fach und kann mir nichts interessanteres und keinen erfüllenderen Beruf vorstellen. Dennoch, je öfter ich in der Klinik bin, desto stärker bin ich abgeneigt, dort zu arbeiten.
Werbung
Je mehr der Abschluss greifbar wird, desto öfter wandern meine Gedanken zum Danach. Ich habe schon mehrere Hochs und Tiefs zu diesem Thema durchlaufen – hatte ja genug Zeit während meiner mittlerweile fünf Jahre Studium in Elternzeit. Vor ungefähr einem halben Jahr bin ich gar soweit gegangen, mich bei der Studienberatung vorzustellen, mit der Frage: Was tun, wenn ich kein Arzt werden will? Wenn ich das PJ nicht machen will? Wenn ich überhaupt nicht mehr weiter studieren will?
Dabei habe ich herausgefunden, dass man nach dem schriftlichen Teil des Staatsexamens (M2) schon so etwas wie einen Bachelor in der Tasche hat. Ohne das PJ machen zu müssen, kann man also entweder als “Medizin-Theoretiker” einen Versuch in die Arbeitswelt starten oder einen Masterstudiengang draufsetzen. Bei beidem bin ich aber noch nicht so weit gekommen, mir über das “Was genau?” oder “Welcher Beruf?” klar zu werden. Aber es ist schon mal ein Anhaltspunkt; eine Möglichkeit, der Klinik zu entkommen.
Mit den Weiterbildungsordnungen geht es demotivierend weiter: es gibt kaum Teilzeitstellen für Assistenzärzte und wenn, dann hat man nicht einmal die Garantie, dass die in Teilzeit abgeleisteten Stunden später als Weiterbildung anerkannt werden.
Da mein Mann in der IT arbeitet, habe ich einen direkten Vergleich zwischen modernen Arbeitsmodellen auf der einen Seite, die jeden Mitarbeiter mit seinen individuellen Bedürfnissen respektieren; die nicht Stunden zählen, sondern Ergebnisse loben. Und der Krankenhausstruktur auf der anderen, von der förmlich der Putz bröckelt. Eingefahrene Hierarchien, Gezank zwischen Pflege und Ärzten, Ärzten und Ärzten, ungeregelte Arbeitszeiten…
Hinzu kommen die unbezahlten Überstunden, die in vielen Teams implizit erwartet werden. Der Teilzeit-Depp, der jeden Tag pünktlich um 13 Uhr geht, macht sich nicht gerade Freunde unter seinen Kollegen. Oft lassen sich Aufgaben auch nicht bis mittags erledigen, weil man beispielsweise auf den Oberarzt warten muss, der gerade im OP steckt, etc pp.
Was bringt die Zukunft?
Da ich mich zu den eher freiheitsliebenden Menschen zähle, bin ich mir nicht sicher, ob ich es in einem Krankenhaus aushalten werde.
Gut ist es also, einen Plan B zu haben: Nach dem schriftlichen Teil des Examens kann man etwas anderes machen, noch vor dem PJ! Übrigens “verjährt” die Ausbildung nicht, man kann die Approbation immer nachholen – vorausgesetzt, man bekommt einen Studienplatz und traut das seinen grauen Zellen noch zu.
Auf der anderen Seite erlebe ich im Klinikalltag immer wieder beglückende Momente. Wenn ich sehe, wie Patienten geholfen werden konnte oder gar daran teilhatte. In solchen Situationen steigt meine Motivation wieder.
Hoffnung schimmert auch auf, wenn ich lese oder höre, dass auf Ärztetagungen und -kongressen mehr und mehr über das Thema Kind und Karriere diskutiert wird. Allein deshalb, weil mittlerweile 60 Prozent der Studierenden weiblich sind, muss sich zwangsläufig etwas ändern. Von kompetenzbasierten Weiterbildungsordnungen ist die Rede, mehr Teilzeitstellen, neuen Arbeitszeitmodellen.
Und ich möchte hinzufügen, es geht mir nicht darum, mehr Frauen in Führungspositionen zu boxen. Wir sollten nur alle (auch Männer, die ihre Vaterrolle intensiver wahrnehmen wollen) die Chance darauf haben, Arbeit und Familie zu vereinen. Ohne dabei das Gefühl zu haben, weder dem Einen noch dem Anderen gerecht zu werden.
Gut, dass ich nur vierzig Minuten mit meinen Gedanken alleine bin. Bevor ich also zu dem Punkt kommen kann, mich gedanklich auf einen Weg festzulegen, bin ich schon angekommen. Ein Schritt nach dem anderen, jetzt erst einmal das Semester abhaken und dann das schriftliche Staatsexamen.