Woche 1: Schul- und Kitaschließung
Anarchismus pur. Im Hof laufen wilde Kinder umher, völlig losgerissen jedweden guten Willens, von Manieren gar nicht zu reden. Kein Kindergarten, keine Regeln.
Was habe ich in den letzten Tagen am meisten zu den herum rennenden Kindern gerufen? “Schuhe anziehen!” Erstens ist es einfach noch zu kalt für barfuß und zweitens habe ich keine Lust auf den Dreck im Haus. Ich bin sowieso nur am Aufräumen und Putzen und fühle mich dabei wie eine Kehrmaschine, die einem Tornado hinterher fährt – und das im Kreis. Und, was habe ich am zweithäufigsten gerufen: “Wo ist Alex?!” – der kleinste aus der Nachbarschaft, ein unbelehrbarer Lockenkopf, der alle fünf Minuten seinen Aufenthaltsort wechselt, ohne jemandem Bescheid zu geben. Meine Stimme wurde nach ein paar Tagen heiser von dem ganzen Rufen. Oder habe ich mich angesteckt, mit ganz mildem Verlauf? Ich werde es wohl nie erfahren.
Als am Freitagmorgen die Kita- und Schulschließung angekündigt wurde, musste ich weinen. Ich war alleine, mein Mann beim Geschäftstermin, die Kinder im Kindergarten. Ich zitterte am ganzen Körper. Wie sollte ich jetzt bitte das Examen schaffen? Wie?! Und was geht hier eigentlich vor? Zum Glück kam gerade meine Nachbarin vorbei und konnte mich trösten, mich umarmen, mir ihre Unterstützung anbieten, die Kinder mit den ihren zusammen ein paar Stunden am Tag zu betreuen. In diesem Moment konnte ich nur vage ahnen, dass solch zwischenmenschliche Begegnungen bald auf unvorhersehbare Zeit unmöglich werden.
Noch ist keine Ausgangssperre verhängt, doch mit der Schließung aller öffentlichen Einrichtungen und dem Spielplatzverbot bleibt uns nur noch der Hof, auf dem die Kinder ihre unbezähmbare Energie loswerden können.
Abends schmerzt mein Nacken: ein Zeichen dafür, dass ich die Schultern den ganzen Tag unter Anspannung Richtung Ohren ziehe, unter der Anspannung, meine Meute zusammenzuhalten, unter der Anspannung, heute noch die Themen XY durchzuarbeiten.
Werbung
Mein Nacken schmerzt, meine Stimme ist heiser vom Brüllen – denn ja, alle Eltern brüllen zur Zeit. Macht man das Fenster auf, hört man lustige Kinder rufen, lachen und Eltern schreien: “Nicht auf die Straße rennen! Nicht deine Schwester schlagen! Gib das dem Kleinen zurück, das ist ein verdammtes Dreirad und du bist acht Jahre alt!” Wenige haben noch die Kraft, sich um einen gediegenen Umgangston zu bemühen.
Die Kinder, ich, mein Mann, wir sind hundemüde. Wir alle schlafen um 20:30 Uhr beim Geschichtenerzählen ein, mitten im Satz.
Ein neuer Lernrhythmus
5 Uhr, der Wecker klingelt, ganz leise. Die Katze maunzt umso lauter. Sie wartet förmlich darauf, dass der Handywecker unter meinem Kopfkissen klingelt und ich aufstehe, um ihr Näpfchen zu füllen. Danach mache ich mir einen Tee und lerne. Draußen ist es noch dunkel. Bis 10 Uhr, habe ich mit meinem Mann ausgemacht, habe ich “kinderfrei”. Hochkonzentriert komme ich gut voran, bis…
6:32, die Tür zu meinem Zimmer platzt auf. “Maaaaaaama, ich bin wach.” Es steht ein kleiner Zwerg mit wuscheligen Haar in eine Kuscheldecke gewickelt an der – nicht mehr an der Tür, schon klettert sie auf meinen Schoß. Ich kann nicht nein sagen, und schiele über den wunderbar nach Kinderschlaf duftendem Krauskopf auf meinen Bildschirm…
6:37, der zweite kommt. “Mama, ich setze mich ganz still neben dich und mache mein Rätselbuch.”
Selbstverständlich sitzen sie keine zwei Minuten still, sondern zappeln und streiten sich um meine Textmarker…
Papa kommt und zerrt sie in die Küche zum Frühstück. Ich lerne weiter. Jeden Tag lade ich die Seite des Prüfungsamtes neu, mit der Frage, ob das Staatsexamen überhaupt stattfindet. Aber nein, sie werden die Prüfung nicht absagen. Nicht jetzt. Nicht in Zeiten von Corona, in denen alle Medizinstudenten zu Hilfe in den Kliniken aufgerufen werden. Ich musste lange überlegen, ob und wie auch ich mithelfen könnte – eine gewisse “ärztliche Pflicht” spürt man vor allem in höheren Semestern schon. Aber ich habe Familie. Mein Mann und die Kinder allein? Er gibt sich ja jetzt schon bald die Kugel. Außerdem ist er Haupt-, eigentlich sogar Einzig-Verdiener bei uns, zudem freiberuflich. Er MUSS arbeiten. Trotzdem ist es ein Gewissenskonflikt. Unsere Nachbarin zum Beispiel, Anästhesistin, kommt kaum noch nach Hause. An dieser Stelle möchte ich einen außerordentlichen Respekt und Dank an alle, die an vorderster Front im Kampf gegen Corona stehen, aussprechen!
Viele fragen mich: “Du als Medizinerin, was sagst du dazu?”
Ich sage gar nichts. Es reicht ja schon, dass die WHO und das RKI alle Tage seine Meinung ändert (wie im Falle Ibuprofen). Die einzigen mit klarer Linie sind die Politiker: Stück für Stück schränken sie die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger ein.
Ist das nötig? Ist das gut? Ich weiß es wieder nicht. Nötig – klar, zumindest aus politischer Sicht. Ansonsten könnten sie am Ende vorgeworfen bekommen, nicht genug getan zu haben, um ihr Volk zu schützen. Gut – ich weiß es nicht. Natürlich müssen wir alles mögliche tun, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, um die Bevölkerung zu schützen.
Und genau aus diesem Grund traut sich niemand mehr, etwas zu riskieren – etwa die Oma einzuladen, damit sie mit den Kindern aushelfen kann. Mein Vater wollte uns besuchen, doch musste ich ihm absagen, da er niedergelassener Internist ist und viel Kontakt zu Menschen hat, ich somit die ganze Nachbarschaft (in dessen Hof die Kinder ja als Virenschleudern wild umher rennen) in Gefahr einer eventuellen Ansteckung setzen würde. Und das noch vor der offiziellen Ausgangssperre.
Woche 2
Wir sind eingesperrt. Der Hof und die Nachbarskinder tabu. Der erste Tag verlief relativ gut, wenn man die blank liegenden Nerven bei uns Eltern außer Acht lässt. Nicht nur die Kinder zuhause, die gesamte Situation auf der ganzen Welt ist beunruhigend und zerrt an unserem ohnehin schon dürren Nervenkostüm.
An Lernen ist gar nicht mehr zu denken. Doch noch immer steht auf der Seite des Prüfungsamt in roten Lettern, dass die M2 und M3 Prüfungen stattfinden werden. Selbst der bvmd setzt sich dafür ein, dass die Prüfungen nicht verschoben werden. Die “mentale Belastung” sei zu hoch, sämtliche organisatorische Anhängsel, sei es Start ins PJ oder ins Arbeitsleben, kämen durcheinander… Ich kann das trotz der widrigen Umstände, in denen ich mich befinde, nur bestätigen. Ich will das Examen einfach hinter mir haben. Und wenn ich dafür die nächsten drei Wochen um 4:00 aufstehen muss…
Tag 2: Die Kinder leiden. Sie brauchen einen geregelten Tagesablauf, ihre Freunde, den Sozialkontakt. Ohne sich mit ihren Spielkameraden abreagieren zu können, leiten sie ihre Energie in unkonventionelle Verhaltensweisen um. Auf gut deutsch: Sie gehen durch die Decke.
Tag 3: Es ist zum Heulen. Kinder sind laut, Kinder sagen nein, Kinder machen nicht, nie, was man ihnen sagt. Kinder machen Dreck und wollen nur Süßigkeiten essen. Sonst nimmt der Kindergarten einem wenigstens mittags das “Was koche ich heute?” ab. Geschwisterkinder streiten sich, gehen sich auf die Nerven, beißen schlagen, spucken.
Was machen die Eltern? Schreien. Es tut mir so leid. Aber in einer solchen Situation ist es schwer an sich zu halten. Ich wette, dem ein oder anderen rutscht auch mal die Hand aus. (Ich muss betonen: Ich befürworte das auf gar keinen Fall, doch liest man jetzt schon in vielen Artikeln von Psychologen, dass das Risiko für häusliche Gewalt in solchen Ausgangssperren steigen wird.) In China wurden die Scheidungsämter nach Aufhebung der Quarantäne eingerannt. Psychologen und Paartherapeuten erleben bald wohl einen Aufschwung. Apropos Aufschwung, was passiert mit unserer Wirtschaft? Wie tief wird der DAX noch sinken? Niemand weiß es. Niemand weiß überhaupt etwas.
Deutschland, das Land der Sicherheit, versinkt in Unsicherheit. Und greift so tief in die Grundrechte seiner Bürger ein, wie nie zuvor seit dem zweiten Weltkrieg.
Das fühlt sich gruselig an. Sehr gruselig.
Und trotzdem muss man – jetzt noch mehr als zuvor – als Familie funktionieren; trotzdem muss man Ruhe bewahren, woher auch immer man die Kraft nimmt; trotzdem muss man als Paar zusammenarbeiten, so verlockend auch immer es wäre, seinen Partner als Zielscheibe seiner Verzweiflung und Aggressionen zu nutzen; trotzdem muss man als Eltern gerade stehen und seinen Kindern Sicherheit bieten, die sie am meisten von uns brauchen; woraus auch immer man sie schöpft.
Wie werden wir das schaffen? Ich weiß nur eins: Dass uns ein Keller voller Klopapier dabei nicht helfen wird.