Es war Herbst in Zürich, und der für diese Jahreszeit typische Hochnebel zog sich durch die Schweizer Berge. Ich lief die Straße hinunter Richtung Spital und atmete die klare Luft ein. Bald würde ich wieder die Maske anziehen, die seit der Pandemie zum Alltag geworden ist. Es war mein erster Tag in der Chirurgie – mein drittes Tertial des Praktischen Jahres. Ich war sehr neugierig, was auf mich zukommen würde. Die erste Rotation würde auf der Plastischen Chirurgie sein.
Auf dem Arztzimmer traf ich auf drei weitere PJler; zwei hatten wie ich ihren ersten Tag auf dieser Abteilung. Die Ärztin zeigte uns die Station und erklärte, dass wir bei Operationen assistieren sowie für die Eintritte zuständig sein würden. Die Plastische Chirurgie ist hier in die Handchirurgie, Rekonstruktive Chirurgie, Ästhetische Chirurgie sowie die Verbrennungschirurgie aufgeteilt. Heute sollte jemand auf der Verbrennungschirurgie assistieren.
Schwerstes Verbrennungstrauma
Ich erklärte mich bereit und fand mich bald im aufgeheizten Operationssaal wieder. Ein steifer, magerer Körper lag auf der Liege und wurde bereits mit steriler Flüssigkeit gesäubert. Ich wusch mich, und die Pflegefachfrau kleidete mich steril ein. Ich sollte bei der sorgfältigen Desinfektion des Operationsgebietes helfen. Der gesamte Körper war verwundet, zum Teil sogar blutig. Lediglich die Hände, Füße und das Gesicht waren ausgespart. Der Patient hatte letztes Jahr eine schwerste Verbrennung an mehr als 75 Prozent der Körperoberfläche erlitten. Er hatte seine Frau betrogen und sich als Liebesbeweis mit Öl übergossen. Schließlich hat er das Unsagbare getan. Die meisten Patienten überleben ein solches Trauma nicht.
Seit fast einem Jahr liegt der Patient im Spital und die Ärzte kämpfen täglich um sein Leben. Man hat zwischenzeitlich versucht, die Haut mit vielen Methoden zu decken, von der Meek-Transplantation bis zum Meshgraft, aber leider hat sich die Haut immer wieder infiziert. Auch heute wurde eine Form der Hauttransplantation durchgeführt. Seit dem Suizidversuch hat er mehr als zwei Drittel seines Körpergewichtes verloren. Der Körper ist seither versteift, und er kann sich spärlich bewegen. Seine Familie kämpft auch weiter um ihn, aber die Ärzte befürchten, dass er aufgrund der vielen Komplikationen möglicherweise ein Palliativpatient wird. Zum Schluss deckten wir die wunde Haut vorsichtig mit Kompressen ab und wickelten den Körper sorgfältig mit weichem Verband ein.
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Direkt nach der OP: Digitales Treffen zum Promotionskongress
Als ich den Operationssaal verließ, war es bereits 16:00 Uhr. Es blieb mir kaum Zeit, um die Geschichte zu verarbeiten. Um 17:00 Uhr hatte ich ein digitales Treffen mit dem Team des Heidelberger Promotionskongresses. Dieser Kongress ist studentisch organisiert und bietet in Kooperation mit der Medizinischen Fakultät Heidelberg eine Plattform zum Thema Promotion. Jedes Jahr bereiten wir hierzu ein umfangreiches Programm vor, das von Workshops bis zu Poster-Sessions, Keynotes und Podiumsdiskussionen reicht. Drei Jahre in Folge hatte ich das Privileg, diesen Kongress mit zwei weiteren Heidelberger Medizinstudentinnen, Sophie und Meike, zu leiten. Die Planung für ein solches Event startet üblicherweise etwa ein Jahr im Voraus. Leider mussten wir den Kongress dieses Jahr, wie viele weitere Veranstalter auch, aufgrund der Pandemie vom Frühjahr auf den Herbst verschieben und zusätzlich digital umsetzen.
Zuhause klappte ich mein Laptop auf und freute mich über die vertrauten Gesichter auf dem Bildschirm. Zufälligerweise war ein Teammitglied für seine Doktorarbeit zur selben Zeit auch in Zürich. Wir begrüßten uns alle und machten uns zügig an die Arbeit. Der diesjährige Kongress würde in zwei Wochen stattfinden und es gab reichlich zu tun. Wir erwarteten fast vierhundert Gäste und Teilnehmer. Seit April arbeitete das Team fleißig an der Digitalisierung. Immer wieder haben wir die digitale Plattform getestet, um sicherzustellen, dass am Kongresstag nichts schief laufen würde. Ein letztes Mal diskutierten wir das Programm und die Logistik. Jeder wusste Bescheid, was er zu tun hatte. Wir waren vorbereitet.
Tagsüber im Spital arbeiten, abends den Kongress vorbereiten
Die weiteren Tage verliefen ereignisreich. Tagsüber arbeitete ich im Spital auf der Plastischen Chirurgie, wo ich die Eintritte für Patienten mit vielfältigen Leiden vorbereitete und bei Operationen assistierte. Das Fach ist sehr vielseitig, und die Operationen reichen von Hautkrebsresektionen, Armamputationen bis zu Brustrekonstruktionen. Immer wieder waren aber die Gedanken bei meinem ersten Patienten auf dieser Station und ich hoffte, dass er möglichst schmerzfrei war. Die meiste Zeit lag er mit Verband im Bett und schlief. Nachdem ich die Eintritte für den Folgetag vorbereitet hatte machte ich mich auf den Heimweg. Dort ging die Arbeit mit dem Heidelberger Promotionskongress weiter, der immer näher rückte.
Am 27.11.2020 war es soweit. Es war Freitag und der zweitägige Kongress stand vor der Tür. Ich war aufgeregt und hoffte, dass alles problemlos ablaufen würde. Gleichzeitig freute ich mich. Wir hatten lange auf diesen Tag gewartet. Der Kongress startete wie üblich mit der Einführung durch die Studiendekanin. Für jede virtuelle Session gab es einen Moderator und ein Backup. Auch ich moderierte mehrere Sessions durch die Kamera. Beide Tage liefen ohne Schwierigkeiten ab. Nach der Preisverleihung für die besten Poster am Samstag Abend traf ich das Team ein letztes Mal im virtuellen Orga-Raum. Die Teilnehmer, aber auch wir, waren sehr zufrieden mit dem digitalen Format. Wir haben ein gut eingespieltes Team und der Kongress war bisher jedes Mal ein Erfolg. Dieses Jahr hatte ich wieder viel Spass bei der Gestaltung und war etwas traurig, dass es das letzte Mal sein würde.
Die Zeit auf der Plastischen Chirurgie neigte sich ebenfalls dem Ende zu. Ich würde als nächstes auf die Viszeralchirurgie rotieren und mich mit unterschiedlichen Tumorkrankheiten befassen. Ein letztes Mal besuchte ich den Patienten in seinem Zimmer. Er lächelte. Heute würde seine Frau zu Besuch kommen und er freute sich darüber. Auch ich freute mich sehr für ihn. Ich weiß zwar nicht, wie lange der Patient zu leben hat, aber ich hoffe, dass er trotz allem so viele Tage wie möglich mit diesem Lächeln lebt.