In früheren Blogartikeln hatte ich schon einige Male darüber berichtet, dass Außenstehende oft ein falsches Bild von den tagtäglichen Einsätzen im Rettungsdienst haben. Besonders eindrücklich wurde dies während des Beginns der Corona-Pandemie. Während wir vor Pandemiebeginn regelmäßig zu „kleineren Notfällen“ wie Kopfplatzwunden oder Verschlechterungen des Allgemeinzustands (häufig auch liebevoll „AZ-Verschlechterung“ genannt) gerufen wurden, lösten sich solche Einsatzbilder während der ersten Corona-Phase quasi in Luft auf.
Ich hatte häufig den Eindruck, viele Menschen waren vor der Ungewissheit der anbahnenden Pandemie erst einmal in eine Art Schockstarre verfallen. Auf der Rettungswache gab es tatsächlich teilweise für fast 24 Stunden keinen Einsatz, was den einen oder anderen Beschäftigten ehrlicherweise ganz schön auf die Palme brachte. Obwohl mildere Notfälle natürlich nach wie vor auftraten, scheuten sich viele Pflegeheime oder auch ganz „normale“ Privatpersonen die 112 zu wählen, während zur „Normalzeit“ teilweise sofort zum Hörer gegriffen wurde, wenn nur der kleine Zeh etwas schmerzte.
Langeweile oder tatsächlicher Notruf?
Versteht mich nicht falsch, in wirklichen Notfallsituationen die 112 anzurufen ist mehr als gerechtfertigt. Genau dafür gibt es schließlich die europäische Notfallnummer. Aus „interner“ Rettungsdienst-Sicht musste ich manchmal schmunzeln, wegen welchen Befindlichkeiten wir teilweise alarmiert wurden. Natürlich gab es auch immer wieder Fälle, bei denen ich mich fragte, wie man einen offensichtlichen, häufig auch lebensbedrohlichen Notfall, nicht bemerken konnte. Doch das war zu Beginn der Pandemie alles anders. Ärztliche Kolleginnen und Kollegen berichteten darüber, dass auch Termine zur Vorsorge abgesagt oder nicht mehr wahrgenommen wurden. Neuerkrankungsraten brachen ein und alle Rettungswachen in unserem Landkreis fuhren in einem kurzen Zeitraum merklich weniger Notfälle.
Besonders beeindruckend fand ich dann den Rückgang dieses Phänomens, als das erste Mal klar wurde, wie sich die Coronapandemie grob äußern würde. Als wäre die erste Angst der Bevölkerung verflogen, häuften sich auch wieder Fahrten wegen Lappalien und eingewachsenen Zehennägeln, die eigentlich unter der Woche in der allgemeinärztlichen Versorgung gelöst werden könnten. Oft dachte ich mir, insbesondere in meiner Anfangszeit im Rettungsdienst, wie verrückt und auch hilflos die Leute doch manchmal sind. Immer wieder kam es vor, dass wir nach einem „Einsatz“ wieder in den Rettungswagen stiegen und uns fragten, weshalb wir eigentlich alarmiert wurden. Einige Patientinnen und Patienten machten leider den Eindruck, nur aus Langeweile oder Einsamkeit bei der Rettungsleitstelle angerufen zu haben.
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Lieber einmal zu viel als zu wenig
Mir geht es ganz und gar nicht darum, dass man solche Fälle verurteilt, ganz oft können Patientinnen und Patienten vermeintliche Notfallsituationen gar nicht adäquat einschätzen. Genau dafür gibt es schließlich den Rettungsdienst und prinzipiell vertrete ich auch die Meinung, lieber einmal zu oft nach jemandem zu sehen als einmal zu wenig. Gerne steht das Rettungsdienstpersonal dafür auch nachts um 3 Uhr auf. Doch habe ich mir hin und wieder etwas mehr Verstand im Umgang mit der 112 gewünscht. Nur weil sich eine Pandemie anbahnt, darf natürlich genauso ein Notruf abgesetzt werden wie zu „normalen“, nicht-pandemischen Zeiten. Eine dünne Haut bekommt man nur, wenn um 3 Uhr nachts Zahnschmerzen, die seit mittlerweile fast zwei Jahren bestünden, therapiert werden sollen. Doch wenn ich genau darüber nachdenke, lernt man mit der Zeit einen Umgang mit solchen Einsätzen. Etwas mehr Vernunft würde sicherlich hin und wieder beim Griff zum Telefonhörer nicht schaden, doch vielleicht gehören solche Fahrten eben auch zum Job dazu.