Aus der Psychokardiologe: Infos und Tipps für Ärzte und Ärztinnen

Psychokardiologie
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Psychokardiologie ist eine spannende, relativ junge Spezialdisziplin. Sie hilft, wo die somatische Medizin nicht mehr weiterweiß – und kann den Verlauf von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sogar umkehren. Zu den wenigen Experten Deutschlands gehört Dr. Roland Prondzinsky. Er berichtet aus seiner Sprechstunde im Carl von Basedow Klinikum in Merseburg.

Herr Dr. Prondzinsky, wer kommt zu Ihnen?

Dr. Roland Prondzinsky: Meine Patientinnen und Patienten finden über verschiedene Wege zu mir, oft nach einem Herzinfarkt. Trotz längerer Krankschreibung und Reha kommen sie nicht wieder in Gang, bis irgendjemand – salopp gesagt – feststellt „Mensch, du bist nicht mehr der Alte. Geh doch mal in die psychokardiologische Sprechstunde“. Gerade eben suchte mich ein knapp 40-jähriger Mann auf, der bereits den fünften Herzinfarkt durchgemacht hat. Er raucht nicht, ist gertenschlank, in Studien integriert, um seinen Cholesterinspiegel zu senken – und total erschöpft durch die vielen Behandlungsprozesse. Mittlerweile völlig verzweifelt und hoffnungslos, fragt er sich, wie er vielleicht einen weiteren Lebensstilwandel einleiten könnte, der ihm die Chance auf ein gewisses Überleben gibt.

Wo setzt die Psychokardiologie an?

Dr. Roland Prondzinsky: Während wir Risikofaktoren wie Cholesterin heute durch Medikamente und Ernährung relativ gut in den Griff bekommen, haben wir im Gegenzug ein großes Problem mit mentalem Stress. Laut der großen Interheart-Studie ist er für ein Drittel der Herzinfarkte verantwortlich. Ich persönlich würde das sogar auf 40 bis 50 Prozent ansetzen. 2022 titelte auch die New York Times “Stress May Be Your Heart’s Worst Enemy”. Das Problem: In unserer Gesellschaft wird dieser Dauerdruck überhaupt nicht mehr adäquat wahrgenommen. Wir finden es normal, alles sehr schnell zu machen, multitask zu sein, wenig Zeit für uns selbst einzubauen. Ich erlebe in meinen Sprechstunden ganz viele erfolgreiche, fleißige, sehr erschöpfte Menschen. Zudem erzeugt die moderne Arbeitswelt zahlreiche emotionale Belastungen.

Welche sind das?

Dr. Roland Prondzinsky: Gravierende Folgen für die Herzgesundheit hat die Ausgrenzung aus gesellschaftlichen Gruppen, wie durch Mobbing. Dazu zählt auch die sogenannte Gratifikationskrise. Sie betrifft Menschen, die sich intensiv in ihren Job reinhängen, etwa Sonderschichten übernehmen und trotzdem wird der Kollege bei Einkommen und Beförderung bevorzugt. Das geht messbar mit einer erhöhten Häufung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen einher. Auch den Wechsel in den Ruhestand darf man nicht unterschätzen. Gerade in den ersten zwölf Monaten nach Ende des Berufslebens kommt es zu hohen Ereignisraten. Oft sind die Betreffenden nicht vorbereitet, wie sie mit der neuen täglichen Leere fertig werden. Das Thema Einsamkeit ist ein weiterer großer Risikofaktor.

Warum? Da habe ich doch eher zu wenig Aufregung…

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Dr. Roland Prondzinsky: Soziale Isolation erzeugt hohen Stress, weil ich vulnerabel bin. Wenn mir irgendetwas passiert, habe ich keine Unterstützung, niemand der mir schnell helfen kann. Wenn das im schlimmsten Fall noch mit Zurückweisung verbunden ist, zum Beispiel durch eine Scheidung, wird es doppelt schwer. Von Einsamkeit betroffen sind vor allem zwei Gruppen. Die Älteren und sowohl in Europa als auch in Japan vor allem die 20- bis 30-Jährigen. Vielen Jüngeren fällt es schwer in Kontakt zu kommen, weil grundlegende Techniken – wie gehe ich auf andere zu, wie pflege ich eine Bindung, wie gestalte ich eine Beziehung – unter dem Einfluss von Social Media verloren gegangen sind.

Was passiert durch Stress im Körper?

Dr. Roland Prondzinsky: Akuter Stress, ausgelöst zum Beispiel durch einen heftigen Ärger- oder Wutanfall, führt dazu, dass die Gefäße vorübergehend die Fähigkeit verlieren, sich zu weiten. Wir nennen es eine „Störung der Endothelfunktion“. Bei sozialer Isolation ist man dagegen chronisch gestresst – und das Herz schüttet Cortisol aus. Im Hintergrund kommt es zu verstärkten Entzündungen. Das scheint überhaupt der Hauptmechanismus für eine Vielzahl von Erkrankungen zu sein. Auch affektive Störungen wie Depressionen, Angststörungen als auch körperliche Erkrankungen wie zum Beispiel Herzerkrankungen sind über diese Inflammations-Prozesse miteinander verbunden.

Arteriosklerose und die koronare Herzkrankheit gelten als Volksleiden. Kann man die sogar rückgängig machen?

Dr. Roland Prondzinsky: Ja. Das zeigte schon eine etwas ältere Studie: der San Francisco Lifestyle Heart Trial, der 1990 im Lancet publiziert wurde. Hier untersuchte der damalige Doktorand Dean Ornish, inwieweit sich Koronarsklerose durch Lebensstiländerung beeinflussen lässt. Dazu ging er mit einer kleinen Gruppe über ein Jahr in ein Retreat. Immer wieder traf er sich mit der Experimentalgruppe zu Gesprächen. Diese fanden zunächst aus rein organisatorischen Gründen statt, um an die Studienbedingungen, wie fettarme pflanzlich-basierte Kost etc., zu erinnern. Im Verlauf stellte er jedoch fest, dass auch diese Treffen eine sehr wichtige Funktion hatten und vertrauensstärkend wirkten. Er konnte damals mit quantitativer Angiographie belegen, dass die Plaques bei seiner Lebensstil-Interventions-Gruppe entweder nicht fortgeschritten waren oder sich sogar zurückgebildet hatten, während diese Koronareinengungen bei der Kontrollgruppe weitergewachsen waren. Das Ergebnis erschien so abenteuerlich, dass es damals in der Scientific Community keinen rechten Platz fand.

Unterstützend wirken zudem Entspannungstechniken wie autogenes Training und Meditation. Wer das mehrfach täglich praktiziert, wird Veränderungen an sich feststellen. Tatsächlich kann man bei stark belasteten Patienten im funktionellen MRT sehen, dass die Mandelkerne, die bei Stress den Sympathikus aktivieren, im Lauf von mehreren Wochen kleiner werden. Auch die Verbindung der beiden Hirnhälften über das Corpus callosum nimmt unter der Meditation im Laufe der Zeit zu. Diese Techniken sind in der Lage, unser Hirn plastisch zu formen und uns damit zunehmend vor Krankheiten zu schützen.

Wie äußern sich psychosomatische Herzbeschwerden? Wie können Ärztinnen und Ärzte anderer Disziplinen das unterscheiden?

Dr. Roland Prondzinsky: Das lässt sich von außen oft sehr schlecht beurteilen. Manchmal muss schon entweder ein Cardio-CT, MRT oder sogar ein Herzkatheter veranlasst werden, um sicher auszuschließen, dass hinter der zwiespältigen Symptomatik im Brustkorb nicht doch eine Engstelle steckt. Ein Mann Mitte 50 mit Herzbeschwerden, der die klassischen Risikofaktoren hat, ist natürlich prinzipiell gefährdet.

Haben Sie trotzdem ein paar Ratschläge, wie ich den Unterschied erkenne?

Dr. Roland Prondzinsky: Wenn Herzbeschwerden unter typischen Belastungsbedingungen auftreten und ein Patient beispielsweise sagt „immer, wenn ich bis in die dritte Etage laufe, fängt es an zu ziehen“ ist das sehr wahrscheinlich körperlich bedingt. Treten die Symptome dagegen abends auf der Couch auf und zwar vor allem, wenn der Patient allein ist, frage ich „haben Sie das auch in Gesellschaft?“. Lautet die Antwort „nee, dann eigentlich nicht“, so ist es wahrscheinlich psychosomatischer Genese. Charakteristisch ist auch, dass viele der Betroffenen sehr ungern im Supermarkt einkaufen, weil ihnen das „zu voll“ ist. Das ist ebenfalls ein sehr deutlicher Hinweis auf eine Angst- und Panikstörung.

Wie kann die Psychokardiologie hier helfen? Können Sie ein Fallbeispiel schildern?

Dr. Roland Prondzinsky: Vor wenigen Monaten suchte mich ein etwas älterer Mann – nennen wir ihn Herrn B. – auf. Er ließ sich in den Sessel fallen, kam kaum zu Atem und verstand gar nicht, wo das herkam. Er hatte eine Reihe von externen Untersuchungsbefunden von Lunge und Herz dabei. Alles gemacht, nichts gefunden. Herr B. war finanziell gut aufgestellt, hatte gerade seinen Betrieb in gute Hände übergeben. Ich fragte ihn, ob er vielleicht vor irgendetwas Angst hätte, was er verneinte. In mehrwöchiger stationärer Therapie kam heraus, dass er nicht nur ein ungewolltes Kind war, sondern dass seine Familie in der DDR politisch immer unter Beobachtung stand. Dieser Druck nach außen nicht aufzufallen, sich unbedingt anzupassen, prägte sein gesamtes Leben als Grundmuster. Das stellte letztendlich die Ursache für die innere Anspannung dar, die der Körper in seiner Sprache als „Luftnot“ gegenüber dem Patienten zum Ausdruck brachte. Für diejenigen Menschen, die nur schwer in Kontakt mit ihren eigenen Gefühlen kommen, kann das Herz zum Projektionsort, gewissermaßen zur Bühne werden, um unbewusste Konflikte auf einer körperlichen Ebene sichtbar werden zu lassen. Nicht zuletzt sprechen wir ja davon, dass uns etwas auf dem Herzen liegt.

Was sollten Ärztinnen und Ärzten ihren Patientinnen und Patienten immer empfehlen?

Dr. Roland Prondzinsky: Salat essen und spazieren. Man muss keine aufwendige Sportart betreiben. Regelmäßig zu gehen, sorgt für einen hervorragenden Gesundheits- und Fitnessgrad. Und jetzt kommt der wichtigste Punkt, der von den meisten nicht betont wird: Pflegen sie Gemeinschaften, haben Sie Freundinnen und Freunde, lachen Sie viel. Und wenn keiner da ist, den Sie umarmen können, nehmen Sie sich selbst in den Arm. Auch wer seine eigenen Ober- und Unterarme streichelt, löst eine Oxytocin-Freisetzung aus, die positiv für die Blutdruckregulation ist. Laufen, Lieben, Lachen ist ein sehr gutes Motto. Ich rate meinen Patienten außerdem, Tagebuch zu führen und jeden Abend stichwortartig einzutragen, welche drei schönen Ereignisse sie heute erlebt haben. Was hat mir gutgetan, wo habe ich einen Funken Sonnenschein erhascht oder einen netten Klönschnack beim Kaffee gehabt? Das stärkt auf Dauer die Fokussierung der Wahrnehmung auf Positives.

Wir müssen die Belastung durch Stress viel sichtbarer in ärztlichen Sprechstunden machen. Patientinnen und Patienten sollten lernen, ihre Tagesstruktur anders zu planen, Pausen einzuplanen und nicht die Stunden von vornherein so voll zu stopfen, das klar ist, dass sie irgendwann an ihre Grenze gelangen. Zumal das oft mit Schlafstörungen korreliert, da der Sympathikus andauernd stark aktiviert wird. Jede Tagesplanung sollte gezielt um schöne „Freupunkte“ herum organisiert werden, damit uns die schönen Aspekte bewusster werden und nicht Gefahr laufen, immer wieder von der Tagesordnung nach dem Motto „keine Zeit“ gestrichen zu werden.

Gibt’s gerade ein aktuelles Thema in der Psychokardiologie?

Dr. Roland Prondzinsky: Wir beschäftigen uns derzeit intensiv mit den Ängsten beim Umgang mit Defibrillatoren. Wir behandelten vor kurzem einen Patienten, der fünf Mal nacheinander eine Defibrillator-Auslösung hatte. Ihm ist fünf Mal nacheinander das Leben gerettet worden, aber um den Preis, dass seine Angst so groß wurde, dass er das Zimmer in der Klinik nicht mehr verlassen wollte. Dem konnten wir in einem mehrwöchigen Prozess mit kognitiver Verhaltenstherapie und Entspannungstechniken so weit helfen, dass er seit zwei Wochen wieder eigenständig zu Hause lebt und mit seinem Beschützer Frieden geschlossen hat.

Warum begeistern Sie sich für Psychokardiologie? Gab es ein auslösendes Ereignis?

Dr. Roland Prondzinsky: Vor Jahren absolvierte ich bei der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie einen anderthalbjährigen Kurs über die psychosomatische Grundversorgung. Da wurde ein Patient vorgestellt, der durch die halbe Republik geschickt und umfangreich in verschiedenen Kliniken untersucht worden war. Letztendlich konnte niemand das Problem organisch erklären – bis er in der Uniklinik Göttingen in der Psychokardiologie landete. Er sagte vor uns als dem ärztlichen Publikum „immer, wenn jemand mir die Hand gibt, ist dieser Herzschmerz weg“. Es war eine reine Angststörung und für mich augenöffnend. Jetzt möchte ich mehr Öffentlichkeit für das Fach erreichen. In Deutschland gibt es bislang nur ein paar Handvoll Psychokardiologinnen und -kardiologen, obwohl sich durch diese Spezialdisziplin ernst zu nehmende Behandlungserfolge erzielen lassen. Bei dieser Tätigkeit kann man das Wissen aus zwei Bereichen miteinander kombinieren – und sie ist sehr erfüllend: Herr B. ist heute einer der fleißigsten Spaziergänger.

Dr. Roland Prondzinsky
Der Experte
PD Dr. med. Roland Prondzinsky

ist seit 2005 am Carl-von-Basedow-Klinikum in Merseburg tätig. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie sowie Psychotherapeut. Inzwischen konzentriert er sich ganz auf die Psychokardiologie. Weitere Infos zum Fach: www.psychokardiologie.org/

Bild: © privat

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