Herr Dr. Wunderlich, an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Uni Tübingen gibt es seit dem Frühjahr das neue Wahlfach „Katastrophenmedizin und humanitäre Hilfe“. Was lernen die Studenten da?
Dr. Robert Wunderlich: Es geht in diesem Wahlfach darum, dass wir uns um so genannte Großschadensereignisse kümmern. Wir decken mit der Katastrophenmedizin sowohl den nationalen Bereich ab, als auch den internationalen Bereich – das ist dann die humanitäre Hilfe. Konkret wollen wir die Medizinstudenten eine Woche lang so praxisnah wie möglich an dieses Thema heranführen. Dabei behandeln wir verschiedene Themen: Wir starten mit den Grundlagen der Katastrophenmedizin und dem rechtlichen Rahmen. Wie sind die Handlungsabläufe? Wie bringt man erstmal Ordnung in das Chaos, wenn etwas passiert ist? Dafür nutzen wir verschiedene Checklisten und Algorithmen. Aber wir arbeiten auch schon ganz am Anfang mit praktischen Beispielen.
Wie genau gehen Sie da vor?
Am ersten Tag gibt es schon ein Planspiel, bei dem wir uns verschiedene Szenarien aus der Vogelperspektive ansehen, die hier in Tübingen möglich wären – zum Beispiel ein Busunglück auf der Neckarbrücke oder ein Zugunglück am Hauptbahnhof in Tübingen. Dabei müssen sich die Teilnehmer beispielsweise überlegen, wie man Fahrzeuge am besten positioniert und wie man die Abläufe taktisch am besten organisiert. Am zweiten Tag geht es um das Thema Triage, also die Sichtung der Betroffenen. Welcher Patient ist wie schwer verletzt und braucht welche medizinische Versorgung? Da geht es darum, über eine Behandlungspriorität zu entscheiden. Einige lebensrettende Erste-Hilfe-Maßnahmen kann man dabei auch schon direkt umsetzen, beispielsweise eine arterielle Blutung stoppen, einen Spannungspneumothorax entlasten oder die Atemwege öffnen. Das Priorisieren üben wir mit einer Virtual Reality-Simulation. Dabei gibt es drei Behandlungsteams und 200 Verletzte, die triagiert werden müssen. Im nächsten Unterrichtsabschnitt sprechen wir über besondere biologische, chemische, radioaktive und nukleare Gefahren. Dabei werden wir von der Feuerwehr Tübingen unterstützt.
Werbung
Wie funktioniert diese Zusammenarbeit mit der Feuerwehr?
Wir sind wirklich stolz auf die Zusammenarbeit mit der Feuerwehr – dadurch bauen die Unterrichtsteile gut aufeinander auf. Wir erklären erst kurz das Versorgungskonzept für ein Großschadensereignis mit Gefahrgut. Da gelten natürlich besondere Sicherheitsmaßnahmen. Auf dieser Grundlage stellt die Feuerwehr dann ihre Erkundungsfahrzeuge und ihre Schutzausrüstung vor. Für die Studenten ist es spannend, diese Sachen auch wirklich mal vor Ort zu haben. Und die Feuerwehrleute freuen sich natürlich auch, wenn sie ihre Arbeit erklären können. Im Ernstfall hilft es, dass beide Seiten besser wissen, wie die anderen arbeiten. Wenn man diese Dinge dann noch nie gesehen hat, wird alles unnötig kompliziert.
Worauf müssen sich Mediziner im Katastrophenfall denn generell einstellen?
Man kann einfach nicht die normale Individualmedizin machen, die wir sonst gewohnt sind. Wir arbeiten auf der Intensivstation mit Herz-Lungen-Maschinen, Dialyse, Beatmungsgeräten und anderer Technik, die komplett um ein Patientenbett herumgebaut ist – dazu gibt es viele Mitarbeiter, die sich um den einzelnen Patienten kümmern. In einer Katastrophensituation ist es genau andersherum – viele Betroffene und wenige Helfer und Ressourcen. Daraus ergeben sich auch ethische Fragen, über die wir im Kurs sprechen: Wie geht man beispielsweise mit der Sichtung um, wenn man die Verletzten vor Ort priorisieren muss und einfach nicht allen gleichzeitig helfen kann? Das geht dann direkt in das Thema über, wie die Abläufe in der Klinik sind, wenn sehr viele Verletzte auf einmal aufgenommen und eventuell möglichst schnell operiert werden müssen.
All diese Themen betreffen ja einen Katastrophenfall in Deutschland. Was ist anders bei der internationalen humanitären Hilfe?
Bei einer Katastrophe im Ausland geht es nicht nur um medizinische Hilfe, sondern oft auch um Trinkwasseraufbereitung, Hygiene, Nahrungsmittel und „non-food-items“ wie Zelte, Decken und Kochgefäße, die die Betroffenen brauchen. Dazu haben die Studenten vorab schon einen eLearning-Kurs absolviert. Grundlage ist das so genannte „Sphere-Handbook“, in dem internationale Standards für die humanitäre Hilfe festgelegt sind. Dieses Nachschlagewerk wurde von den großen Hilfsorganisationen zusammen mit den Vereinten Nationen zusammengestellt. In unserem Kurs üben wir das mit einem Planspiel zu einem Ereignis, das ich selbst auch als Helfer erlebt habe: die Hungersnot am Horn von Afrika 2011. Dort mussten wir über 150.000 Flüchtlinge versorgen und ich war dafür verantwortlich, für 35.000 Menschen eine Krankenstation aufzubauen. Dieses Szenario nutzen wir auch für das Planspiel: Dabei vertreten die Studierenden verschiedene internationale Organisationen, die gemeinsam ein Konzept für ein weiteres Camp erstellen sollen.
Der Höhepunkt des September-Kurses war eine Katastrophenübung in einem Steinbruch bei Tübingen. Was wurde da genau gemacht?
Bei dieser Übung wurde alles zusammengeführt, was die Studenten in den Tagen davor gelernt haben. Das Szenario war, dass es nach einem Erdbeben ein heftiges Nachbeben gegeben hat – und Menschen, die Unterschlupf gesucht haben, davon betroffen waren. Das hat mit einem lauten Knall angefangen – dann kam ein Notruf und das erste Studententeam musste als Notarzt-Team für eine erste Lageerkundung auf das Gelände. In diesem Szenario haben sie vor Ort 20 Betroffene vorgefunden, die hauptsächlich Traumaverletzungen durch herabfallende Steine und andere Baustoffe hatten. Andere Teams haben zum Beispiel die Gesamtleitung oder die Leitung des Behandlungsplatzes übernommen oder sich um die medizinische Erstversorgung vor Ort gekümmert. Dafür haben wir eng mit dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), der Johanniter Unfallhilfe (JUH) und dem Technischen Hilfswerk (THW) zusammengearbeitet. Das THW war zum Beispiel für die Beleuchtung vor Ort zuständig, das DRK hat den Rettungsplatz vorbereitet und Freiwillige der JUH als Patientendarsteller vor Ort. Wir sind wirklich sehr dankbar, dass diese Kooperationen so gut funktionieren und uns diese Organisationen unterstützen.
Woher haben Sie die Ideen für diesen Kurs?
Ich habe zusätzlich zum Medizinstudium noch einen Master in „Disaster Medicine“ gemacht – das ist eine Kooperation der Universitäten in Brüssel und Novara (Italien). Dort haben wir ähnliche Übungen auch schon gemacht. Wir haben Szenarien entwickelt und hatten eine Art Drehbuch, wie die Übung ablaufen soll. Die Studierenden selbst wurden erst 45 Minuten vorher gebrieft – viele Ereignisse kamen dann überraschend auf sie zu. Aber das ist ja auch so wie im echten Katastrophenfall. Die Teilnehmer bekommen am Sammelpunkt ihre Ausrüstung, und dann warten sie darauf, dass der Notruf eingeht und sie sich erstmal mit der Lage vertraut machen können.
Wie reagieren die Studierenden auf diese Situation? Wie ist das Feedback?
Die Studierenden werden ja von der Situation völlig überrascht. Das ist auch eine gewisse Überforderung – aber auch das ist etwas, das im Ernstfall ganz normal ist, bevor man Ordnung in das Chaos gebracht hat. Die Reaktionen sind ganz verschieden. Wir hatten zum Glück noch keinen Studenten, der völlig überwältigt war. Wir beobachten eher eine positive Form des Stresses: Die sagen eher: „Wir wollen jetzt hier helfen“ und nehmen die Situation als extrem real wahr. Da vergessen sie schnell, dass es eigentlich nur eine Übung ist. Die Studenten sind in dieser Situation sehr intensiv gefordert und nehmen das auch ernst. Aber dabei merken sie auch schnell: Wenn sie sich an die Konzepte und Abläufe halten, die sie im Kurs gelernt haben, funktioniert es auch gut. Die Zusammenarbeit mit den anderen Organisationen ist in der Anfangsphase natürlich holprig, aber auch das ist ja ganz realistisch. Die Übung ist für eineinhalb Stunden angelegt, und jetzt im September waren wir schon 15 Minuten vorher fertig. Das war für alle ein tolles Erfolgserlebnis – bei dem Debriefing hinterher war die Stimmung richtig euphorisch.
Dieses Wahlfach ist in dieser Form in Deutschland ja einzigartig. Warum werden diese Inhalte sonst im Studium nicht behandelt?
Eigentlich sollte es das geben. Es gibt seit vielen Jahren ein Curriculum Katastrophenmedizin, das wir jetzt als Basis genommen haben. Die Dekane der medizinischen Fakultäten haben damals dem zuständigen Ausschuss im Bundesinnenministerium zugesichert, dass diese Inhalte unterrichtet werden sollen. Und eigentlich sollte auch im klinischen Teil des Studiums Katastrophenmedizin unterrichtet werden – das ist im Lehrplan als Notiz enthalten. Allerdings habe ich mich in meiner Masterarbeit damit beschäftigt, was Medizinstudenten tatsächlich über die Katastrophenmedizin wissen. Dazu haben wir 1.000 Teilnehmer aus allen medizinischen Universitäten gefragt, wie sie ihr Wissen zu verschiedenen Teilbereichen der Katastrophenmedizin selbst einschätzen. Das Ergebnis war, dass sie nur dann Kenntnisse hatten, wenn es direkte Berührungspunkte zur Notfallmedizin gab. Ansonsten war kaum Wissen zur Katastrophenmedizin vorhanden. Neben unserem Wahlfach gibt es in Berlin einen gemeinsamen Kurs der Charité und des Bundeswehrkrankenhauses zum Thema – der ist aber etwas militärischer ausgerichtet. Und das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin bietet in Ulm eine Sommerakademie an. Das sind die drei Angebote, die ich kenne. Als reines Wahlfach gibt es das nur bei uns.
Bisher ist der Kurs in Tübingen ja noch ganz neu. Was ist da für die Zukunft geplant?
Das Dekanat hat uns die Finanzierung für vier Kurswochen bewilligt. Wir haben den Kurs im Frühjahr das erste Mal abgehalten. Aber mir ist wichtig, dass dieses Thema darüber hinaus fest institutionalisiert wird und wir dieses Wahlfach die nächsten Jahre hier in Tübingen anbieten können. Wenn der Kurs gut evaluiert wird – und danach sieht es im Moment aus – dann kann das Fach auch hoffentlich in den Regelbetrieb übergehen.
Dr. Robert Wunderlich M.Sc.DM
© privat