Es ist ein kalter Mittwochmorgen und da stehe ich also, knöcheltief in Matsch und Schnee und leicht fröstelnd am ganzen Körper. Mein Name ist Laurin Gerdes, ich bin 18 Jahre jung und habe zugegebenermaßen nicht besonders viel Ahnung von dem, was sich in der letzten Dreiviertelstunde vor meinen Augen abgespielt hat. Es ist ein gar unheimlicher Anblick: Die Polizeistreife kümmert sich um den nun herrenlosen Hund, immer wieder biegt ein Lastwagen des benachbarten Betonwerks in Richtung unserer Parkbucht ab und das Absperrband der Polizei flattert im kalten Wind. Ich bin seit etwa zwei Monaten ein fertig ausgebildeter Rettungssanitäter und habe eben meine erste Reanimation erlebt.
Die Kuchenliste der Freiwilligendienstler
Zwei Stunden zuvor. Gemütlich sitze ich auf dem Sofa der Rettungswache und trinke Kaffee. Wie fast immer. Mein Abitur habe ich seit einem guten Vierteljahr in der Tasche und leiste jetzt meinen Bundesfreiwilligendienst auf der lokalen Rettungswache ab. Draußen schneit es leicht und bis auf einen unkritischen Einsatz verläuft die heutige Frühschicht bisher recht ruhig. Meine Schichtkollegin betrachtet die sogenannte „Kuchenliste der Freiwilligendienstler“, die an der Kühlschranktür klebt und auf der auch mein Name steht. Für jeden größeren notfallmedizinischen Meilenstein, die eine Freiwillige oder ein Freiwilliger in seiner Rettungsdienst-Karriere erlebt, gibt es auf dieser Liste ein kleines Feld, wie bei einer Stempelkarte. Fährt man dann beispielsweise zum ersten Mal zu seinem ersten Verkehrsunfall oder zur ersten Reanimation, kreuzt man im Anschluss an den Einsatz feierlich das Feld auf der Kuchenliste ab und die Kolleginnen und Kollegen freuen sich über einen selbstgebackenen Kuchen oder andere Leckereien – so besagt es die Wachen-Tradition. Meine Spalte ist noch recht leer, was meiner Kollegin an diesem Tag natürlich sofort – nicht ganz uneigennützig – auffällt.
Gute 20 Minuten später klingelt plötzlich der Piepser und das Einsatzstichwort lautet „Herz-Kreislaufstillstand/Reanimation; Waldweg; gegenüber Betonwerk“. Ich kann meinen Augen nicht trauen und erinnere mich noch kurz an das Gespräch über die Kuchenliste, ehe ich mich in den Rettungswagen setze und mit Blaulicht und Einsatzhorn zur Einsatzstelle fahre. Wir erreichen nach kurzer Fahrt einen schmalen Waldweg, der von der Hauptstraße aus kaum sichtbar ist. Zwei Passanten haben wohl per Zufall aus dem Auto heraus eine bewusstlose Spaziergängerin mit Hund entdeckt und sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen.
In meinem Kopf gehe ich immer wieder die Algorithmen und Abläufe einer Reanimation durch, bevor ich auch schon mit den Thoraxkompressionen an der Reihe bin. Aufgrund der äußeren Umstände kann niemand so richtig sagen, wie lange die ältere Frau bereits auf dem matschigen Waldweg liegt. Trotzdem kämpft das gesamte Team um das Leben der Unbekannten und wir versuchen die verschiedensten Maßnahmen, die ich jüngst erst in der Rettungsdienstschule gelernt habe. Vergeblich. Nach einer guten Dreiviertelstunde entscheidet sich der Notarzt für das Ende der Reanimation und gleichzeitig gegen das Leben der Spaziergängerin. Wir packen unser Material zusammen und rüsten unsere Einsatzkoffer am Rettungswagen wieder für den nächsten Einsatz. Dann ist alles zu Ende und wir warten auf die Polizei, die inzwischen verständigt wurde, beziehungsweise durch eine, formal gesprochen „unklare Todesursache“, sogar verständigt werden musste.
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War das schon alles?
Da meine Arbeit an dieser Stelle beendet ist, ertappe ich mich, wie ich diesen Einsatz im Kopf reflektiere. Irgendwie kann ich nicht so richtig glauben, dass das nun schon „alles war“. Ich frage mich, wann diese unbekannte Frau eigentlich gestorben ist, und blicke auf den leblosen Körper, der inzwischen durch ein weißes Laken verdeckt ist. Just in diesem Moment beginnt es wieder zu schneien und ich muss im Rückblick ehrlich zugeben, dass mir diese Situation schon etwas unheimlich vorkam.
Aus heutiger Sicht bin ich aber der Meinung, dass dieser Einsatz für mich damals ein Erlebnis war, welches meinen Horizont unglaublich erweiterte. In so jungen Jahren direkt mit dem abrupten Lebensende konfrontiert zu werden, empfinde ich bis heute als sehr prägend und kann diese Erfahrung nur jedem jungen Menschen wärmstens ans Herz legen. Ich reflektierte weiter und mir wurde bewusst, dass das Leben für uns alle jäh und urplötzlich enden kann, sogar morgens beim winterlichen Spaziergang mit dem Hund. Hätte das vorbeifahrende Auto nicht zufällig angehalten oder wäre die Spaziergängerin etwas tiefer im Wald kollabiert, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Hätte die Spaziergängerin an diesem Tag eine andere Route gewählt, wären vielleicht schneller Ersthelfer*innen vor Ort gewesen und hätten das Leben der Frau retten können. Ich beendete meine Reflexion und verwarf diesen Gedanken schließlich, da sich an der irreversiblen Situation nun nichts mehr ändern ließ.
Heute, gute vier Jahre später, studiere ich Humanmedizin im siebten Semester und mir wird immer mehr klar, dass ein großer Teil der Gesellschaft nur selten Einblicke in die Notfallmedizin und die vielen Facetten dahinter erhält. Genau aus diesem Grund möchte ich Euch gerne an meinen Erfahrungen teilhaben lassen und meine Erlebnisse aus Rettungsdienst und Studium mit Euch teilen. In den nächsten Blogartikeln möchte ich immer wieder verschiedenste Themen aus dem Rettungsdienst aufarbeiten und beleuchten und freue mich sehr über jedes Feedback, alle Anregungen und Rückmeldungen dazu.
Herzliche Grüße, bleibt gesund,
Laurin Gerdes