Theaterarzt: Zwischen Applaus und Notfall

Publikum im Theater
© Andrey Lapshin / Adobe Stock
Ein Schwindelanfall in Reihe sieben, ein Kreislaufkollaps im zweiten Rang, ein umgeknickter Fuß auf der Bühne – ohne großes Aufsehen eilt Uwe Bros (68) Zuschauern und Schauspielern zu Hilfe. Während andere fernsehen, sitzt er lieber im abgedunkelten Zuschauerraum, genießt die Vorstellung und hilft in Notsituationen. Der Anästhesist aus Kaarst bei Düsseldorf arbeitet nebenbei als Theaterarzt. Und das bereits seit über 25 Jahren.

Herr Bros, wie kam es dazu, dass Sie als Theaterarzt arbeiten?

Uwe Bros: Durch einen puren Zufall. Meine Frau und ich interessieren uns schon immer für Theater und Oper. Eine Kollegin, die das wusste, machte mich Ende der 1990er-Jahre auf eine Suchanzeige im Rheinischen Ärzteblatt aufmerksam. Die damals bundesweit erfolgreiche Stella-Gruppe suchte Ärzte zur Betreuung ihrer Musicals. So kam es, dass wir uns – damals noch mit unseren kleinen Kindern – sämtliche Musicals angeschaut haben. Als „Das Phantom der Oper” in der Hamburger Staatsoper gespielt wurde, stellte ich fest, dass es dort auch Theaterärzte gab. Ich habe angefragt und durfte ab und an einen Dienst übernehmen. Das war aus dem Rheinland eine längere Strecke. Deshalb habe ich mich an die Düsseldorfer Oper gewandt und wurde zunächst als Springer ins Team aufgenommen. Nach und nach kamen dann regelmäßige Einsätze am Düsseldorfer Schauspielhaus, dem Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und beim Folkwang Kammerorchester Essen dazu. Inzwischen habe ich auch die organisatorische Leitung des Ärzteteams am Düsseldorfer Schauspielhaus, der Rheinoper Düsseldorf sowie der anderen genannten Häuser übernommen.

Das klingt fast nach Freizeitstress. Wie oft begleiten Sie Vorstellungen? 

Uwe Bros: So oft wie andere in einem Monat oder sogar im ganzen Jahr ins Theater gehen (lacht). Meistens sind es drei Termine pro Woche. Dabei begleitet mich meine Frau immer. Sie liebt die Vorstellungen auch. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich noch Springer war. Da musste ich manchmal von jetzt auf gleich für einen Kollegen einspringen. Dann hat meine Frau alles stehen und liegen gelassen. Unseren beiden Kindern haben wir gesagt „Mama und Papa müssen mal kurz weg” und sind zur Vorstellung gesprintet.

Sie führen eine Praxis und arbeiten in Teilzeit. Hatten Sie früher, als Sie Vollzeit beschäftigt waren, auch so häufig Einsätze?

Uwe Bros: Tatsächlich war es auch früher schon so. Zum Glück haben unsere inzwischen erwachsenen Kinder es mitgemacht, dass wir Eltern so oft unterwegs waren.

Wie kann man sich Ihre Arbeit während einer Aufführung vorstellen?

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Dr. Uwe Bros: Ich bin etwa eine halbe Stunde vor einer Vorstellung oder einem Konzert im Haus und bleibe bis zu einer halben Stunde danach dort. Ich trage keine Arbeitskleidung, sondern sehe aus wie jeder andere Zuschauer auch. Vor Beginn der Vorstellung gebe ich mein Diensttelefon ab, damit es im Saal nicht stört, falls jemand anruft. Wir haben schöne Plätze vorne im Parkett, direkt am Rand in der Nähe einer Tür. Wenn die Tür aufgeht und ich herausgewunken werde, kann ich den Saal unauffällig verlassen und sofort Erste Hilfe leisten. Für Untersuchungen steht im Sanitätsraum eine Liege bereit. Einen Notfallkoffer mit typischen Instrumenten wie Stethoskop und Blutdruckgerät sowie einige Medikamente habe ich natürlich auch dabei.

Mit welchen Fällen müssen Sie rechnen, wenn Sie herausgerufen werden? 

Uwe Bros: Das ist ein ganz bunter Strauß. Von Nasenbluten über Herzrhythmusstörungen und Kreislaufkollaps bis hin zu Frakturen ist medizinisch fächerübergreifend vieles dabei. Kürzlich beispielsweise hatte eine Frau eine Panikattacke. Ich konnte die Situation jedoch rasch einordnen, da der Ehemann von ihrer Angststörung berichtete und sagte, das sei nichts Ungewöhnliches. In solchen und vielen anderen Fällen muss man einschätzen können, ob bereits eine verbale Intervention oder eine Untersuchung ausreicht. Oder ob der Rettungsdienst gerufen werden muss. Übrigens passieren die meisten Unfälle am Ende einer Vorstellung, an der Garderobe oder auf dem Weg dorthin, weil das Publikum hinausströmt, anstatt abzuwarten, bis sich die Ränge geleert haben. In dem hektischen Gedränge kommt es zu Verstauchungen des Arms, zu Handgelenks- oder Oberschenkelbrüchen – das alles habe ich schon gesehen.

Können Sie sich an einen extremen Notfall erinnern?

Uwe Bros: Leider ja. Vor einigen Jahren ist eine Zuschauerin beim Rausgehen im Foyer zusammengebrochen. Ich musste sie reanimieren und parallel dazu wurde der Notarzt gerufen. Das war ein bedrückendes Erlebnis, aber eine Ausnahme. Normalerweise verläuft das meiste glimpflich.

Sie betreuen auch die Darsteller. Um welche medizinischen Themen geht es bei ihnen?

Uwe Bros: Zum einen sind es kleinere Verletzungen wie Zerrungen oder ein verstauchter Fuß. Diese müssen so behandelt werden, dass der betroffene Schauspieler möglichst weiterspielen kann. Falls dies nicht möglich ist, muss das klar kommuniziert werden. Einmal hatte sich ein Schauspieler das Schultergelenk ausgerenkt. Ich konnte es wieder einrenken, was selten ohne Narkose möglich ist. Nach der Pause stand er wieder auf der Bühne. Zum anderen geht es um psychische Zustände: Manchmal sieht sich jemand nicht in der Lage, auf die Bühne zu gehen, weil er emotional mit etwas zu kämpfen hat oder sein Tinnitus gerade besonders stark ist. In solchen Fällen lässt sich vieles einfach durch Zuwendung, Empathie und Zuhören aus der Welt schaffen. Beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch dagegen ist häufiger ärztlicher Rat gefragt. Die Truppe hat zwar eigene Physiotherapeuten, die sofort zur Stelle sind, wenn sich ein Tänzer einen Fuß umknickt. Doch es ist für alle beruhigend, wenn auch ein Arzt drüber schaut.

Können Sie die Aufführungen während Ihrer Einsätze genießen, wenn Sie wissen, dass womöglich Arbeit auf Sie wartet?

Uwe Bros: Absolut. Ich bin ja gewissermaßen ein alter Hase (lacht). Am Anfang war es etwas aufregend, gerade die Notfalleinsätze waren etwas Besonderes. Später weiß man, wie die Dinge laufen, und der Dienst tritt während einer Vorstellung völlig in den Hintergrund. Schließlich verlaufen schätzungsweise acht von neun Vorstellungen ohne medizinische Zwischenfälle. Manchmal gibt es aber auch zwei oder drei Fälle an einem Abend. Die Zuschauer sind sehr dankbar für meine Hilfe. Manche fragen auch: „Was muss ich Ihnen bezahlen?”, doch das kostet natürlich nichts.

Sie sind auch für die Einsatzplanung des ehrenamtlichen Ärzteteams am Düsseldorfer Schauspielhaus und an der Oper sowie am Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und beim Folkwang Kammerorchester Essen zuständig. Wie lange im Voraus planen Sie die Einsätze?

Uwe Bros: Etwa einen Monat im Voraus. Die Kolleginnen und Kollegen äußern ihre Wünsche, und ich versuche, den Plan so gerecht wie möglich zu gestalten. Es kommt jedoch vor, dass ein Arzt eine Vorstellung häufiger sieht, da im Theater und an der Oper das Repertoire wiederholt wird. Trotzdem muss alles besetzt werden, denn wir wollen den Häusern Kontinuität und Zuverlässigkeit bieten, was diese auch sehr schätzen.

Haben Sie genügend ehrenamtliche Ärztinnen und Ärzte oder machen sich Nachwuchssorgen breit?

Uwe Bros: Es gibt zwar immer wieder Kollegen, die zum Beispiel aus Alters- oder Gesundheitsgründen ausscheiden, doch Nachwuchssorgen haben wir nicht. Derzeit teilen sich etwa 20 bis 25 Ärzte und Ärztinnen die anfallenden Dienste in den Häusern. Wenn wir Bedarf haben, sprechen wir aktiv uns bekannte Kolleginnen und Kollegen an. Manche winken dann ab und sagen: „Wenn ich ins Theater gehen möchte, kaufe ich Karten und habe meine Ruhe. Da warte ich doch nicht auf einen Notfall.“ Das ist halt eine andere Einstellung.

Was ist für Sie das Besondere an dieser freiwilligen Arbeit?

Uwe Bros: Für mich ist es definitiv keine lästige Pflicht, sondern ein großes Vergnügen. Ich kann mich ein wenig als Arzt einbringen und gleichzeitig eine schöne Oper genießen. Ein Honorar gibt es für dieses Ehrenamt nicht, sondern lediglich zwei Karten für jede Vorstellung. Dafür lernt man eine andere bunte Welt kennen. Zudem wird unsere Arbeit  von den Zuschauern und vom Ensemble geschätzt, sodass man sich als Teil der Truppe fühlt. Meine Frau und ich sind zum Beispiel inzwischen mit einigen Musikern und Schauspielern gut bekannt, mit einigen sogar befreundet.

Welche Ärzte kommen für dieses Ehrenamt infrage?

Uwe Bros: Das können Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen sein, zum Beispiel Allgemeinmedizin, Psychiatrie, HNO, Gynäkologie, Unfallchirurgie oder Anästhesie wie bei mir. Wichtig ist, dass man eine qualifizierte Notfallausbildung hat und sich zutraut, einen internistischen Notfall zu managen. Wenn man sich bei dem Gedanken an eine Reanimation unwohl fühlt, dann würde ich davon abraten.

Die darstellende Kunst spielt in Ihrem Leben eine herausragende Rolle. Sind Sie diesbezüglich familiär vorbelastet?

Uwe Bros: Nein, gar nicht. Ich spiele noch nicht einmal ein Instrument. In jungen Jahren habe ich ein wenig Gitarre geklimpert, das war es. Dann habe ich immer wieder daran gedacht, Klavier spielen zu lernen, doch ehrlich gesagt, bin ich völlig talentfrei und bleibe deshalb lieber auf der passiven Seite und genieße das Talent anderer Menschen.

Der Experte
Uwe Bros (68)

studierte zuerst fünf Semester Chemie und wechselte dann zur Medizin. Rund 20 Jahre lang war der Facharzt für Anästhesiologie Gesellschafter eines Medizinischen Versorgungszentrums in Grevenbroich. Inzwischen hat er dort eine Einzelpraxis und arbeitet in Teilzeit. Schwerpunktmäßig betreut der Anästhesist eine Kinderwunschpraxis. Er lebt mit seiner Frau in Kaarst in der Nähe von Düsseldorf. Beide teilen die Liebe zu den darstellenden Künsten.

Bild: © privat

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