Frau Dr. Breithaupt, der Begriff „Sozialmedizin” klingt ein wenig abstrakt. Was verbirgt sich dahinter?
Dr. Elisabeth Breithaupt: Sozialmedizinisches Wissen ist für alle Ärzte wichtig. Ganz gleich, ob sie von Haus aus Chirurgen, Internisten, Psychiater oder Gynäkologen sind. Es hilft ihnen, die gesundheitliche Situation ihrer Patienten im Zusammenhang mit ihren Lebensumständen, wir bezeichnen dies als Kontextfaktoren, zu beurteilen. Dabei geht es also nicht nur um Diagnosen und Therapien, sondern auch um die Wechselwirkungen zwischen einer Erkrankung oder Behinderung, dem Beruf und der familiären Situation eines Patienten oder einer Patientin. Die Betrachtung des sozialen Gefüges ist also genauso wichtig wie der medizinische Aspekt. Armut zum Beispiel ist ein Gesundheitsrisiko. Die Sozialmedizin betrachtet den einzelnen Menschen an der Schnittstelle zu den gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Dr. Elisabeth Breithaupt: Sehr gern. Nehmen wir als Beispiel eine gynäkologische Patientin, die krankgeschrieben wird, der sozialrechtlich korrekt „Arbeitsunfähigkeit attestiert“ werden muss. Auf den ersten Blick scheint „Krankschreibung“ eine rein diagnostisch-therapeutische Entscheidung zugrunde zu liegen. Doch sozialmedizinisch betrachtet steckt viel mehr dahinter, denn als Gynäkologin muss ich beurteilen, wie lange die „Krankschreibung“ notwendig ist. Reichen einige Tage zur Genesung aus oder ist eine längere Zeit erforderlich, um Folgeschäden zu vermeiden? Möglicherweise ist die Krankschreibung nur ein Zwischenschritt, denn eventuell ist sogar darüber hinaus eine Reha-Maßnahme sinnvoll.
In anderen Fällen, etwa bei einer schweren Krebserkrankung, kann die Patientin einen Schwerbehindertenausweis beantragen. Daraus ergeben sich beispielsweise ein besonderer Kündigungsschutz, Zusatzurlaub und ein Anspruch auf einen angepassten Arbeitsplatz. Doch auf diese Rechtsansprüche sollte der betreuende Arzt gezielt hinweisen. Dafür braucht er Kenntnisse über sozialrechtliche Bestimmungen und Unterstützungsleistungen. Fehlt ihm dieser sozialmedizinische Blick, kann das zulasten der Patienten und Patientinnen gehen, weil sie nicht all das an notwendigen Leistungen erhalten, was das Gesundheitssystem vorsieht.
Inwieweit wird sozialmedizinisches Wissen bereits im Medizinstudium vermittelt?
Dr. Elisabeth Breithaupt: Leider spielt es im Studium bisher nur eine untergeordnete Rolle. Viele Mediziner merken dann erst im Berufsalltag, wie wichtig das Thema ist. In den Kursen der Zusatz-Weiterbildung „Sozialmedizin” höre ich immer wieder: „Hätte ich das doch nur früher gewusst, dann hätte ich den einen oder anderen Patienten besser betreuen können.”
Sie selbst sind Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe …
Dr. Elisabeth Breithaupt: … ja, nach meiner Facharztweiterbildung war ich in viele Jahre in verschiedenen Kliniken tätig, zuletzt als Leitende Oberärztin einer großen geburtshilflichen Abteilung. Irgendwann wollte ich mich mit anderen Aspekten der Patientenversorgung beschäftigen und noch einen anderen Arbeitsbereich für mich erschließen. Also habe ich überlegt, wo ich mein Fachwissen einbringen und andere neue Aspekte kennenlernen kann. Das war dann beim Medizinischen Dienst der Fall. Fundierte sozialmedizinische Expertise war für die zu bearbeitenden Fragestellungen natürlich unverzichtbar, weshalb ich die Zusatzweiterbildung „Sozialmedizin” absolviert habe.
Den Wechsel von der Klinik zum Medizinischen Dienst – das ist schon 25 Jahre her – habe ich nie bereut. Grundsätzlich erhalten wir von den Krankenkassen Aufträge zur Prüfung; so zum Beispiel, ob eine Arbeitsunfähigkeit weiterhin gegeben ist, oder ob eine Reha-Maßnahme oder eine spezielle Hilfsmittelversorgung sozialmedizinisch indiziert ist. Früher haben wir Ärztinnen und Ärzte auch die Pflegebegutachtungen durchgeführt. Doch diese Aufgaben übernehmen inzwischen bundesweit überwiegend Pflegepersonen. Nur noch selten, insbesondere bei besonderen Konstellationen, werden Pflegebegutachtungen ärztlich konsiliarisch begleitet.
In der Klinik hatten Sie viel Patientenkontakt, Ihre Aufgaben nun klingen nach einem klassischen Bürojob, oder?
Dr. Elisabeth Breithaupt: Das ist nicht ausschließlich so. Im Vergleich zum Klinikalltag ist meine Arbeit beim Medizinischen Dienst natürlich besser planbar. Einen großen Teil meiner Zeit verbringe ich am Schreibtisch. Für meine Arbeit sind insbesondere spezifische Kenntnisse zur gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) und zur sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) wichtig. Ich muss die gesetzlichen Grundlagen, einschließlich untergesetzlicher Regelungen, zum Beispiel Richtlinien, kennen, um korrekte Gutachten rechtskonform erstellen zu können. Dennoch habe ich auch direkten Kontakt zu Patientinnen und Patienten.
Bei den Aufträgen der Krankrankenkassen prüfe ich beispielsweise, ob eine Entscheidung auf Basis der vorliegenden Unterlagen möglich ist. Falls nicht, wird ein persönlicher Termin mit dem Patienten vereinbart, bei dem dann vis-à-vis die personenbezogene Konstellation sachverständig beurteilt werden kann. Sozialmediziner beim Medizinischen Dienst führen also ihre Gutachten sowohl nach Aktenlage als auch im Rahmen einer persönlichen Inaugenscheinnahme durch. So wie es auch in anderen Einrichtungen – wie der Deutschen Rentenversicherung und den Berufsgenossenschaften – üblich ist.
Sie sind im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention, kurz DGSMP. Welche Fragestellungen werden dort thematisiert?
Dr. Elisabeth Breithaupt: Chancengleichheit im Gesundheitssystem darf kein Zufall sein, deshalb ist das ein herausragendes Thema für uns. Dazu braucht es eine enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Wissenschaft und Medizinischen Diensten. Wir bringen mit Stellungnahmen die sozialmedizinische Perspektive in politische Diskussionen ein und überprüfen in Kooperation mit Fachgesellschaften ihre Leitlinien dahingehend, ob aus sozialmedizinischer Sicht alles angemessen berücksichtigt ist. Aktuell beschäftigt uns auch das Thema der Möglichkeiten des Einsatzes von KI in der sozialmedizinischen Begutachtung. Wesentlich setzen wir uns dafür ein, dass die Maßnahmen im Rahmen der Zusatz-Weiterbildung „Sozialmedizin” stärker vereinheitlicht werden. Denn aktuell interpretieren die verschiedenen für die Weiterbildung zuständigen Landesärztekammern die Ausführungen des (Muster-)Kursbuchs Sozialmedizin der Bundesärztekammer teilweise unterschiedlich.
Sie haben vorhin Armut als ein Gesundheitsrisiko genannt. Würden Sie das bitte näher ausführen?
Dr. Elisabeth Breithaupt: Deutschland ist zwar ein reiches Land, doch das Thema Armut wird häufig unterschätzt. Mahatma Gandhi hat mal gesagt: „Armut ist auch eine Form von Gewalt.” Diesen Satz kann man fortsetzen mit: „Armut macht krank, Krankheit macht arm.” Denn nachweislich haben Menschen mit geringem Einkommen oft schlechteren Zugang zu Gesundheitsinformationen, nehmen Vorsorgeuntersuchungen seltener wahr und können sich bestimmte Therapien oder Hilfsmittel nicht leisten, auch wenn es theoretisch Unterstützung gibt.
In der Praxis sieht es zum Beispiel so aus: Ein chronisch kranker Patient, der in einer prekären Wohnsituation lebt, hat häufig weder die Kraft noch die Ressourcen, sich um Reha-Anträge, Hilfsmittel oder gesunde Ernährung zu kümmern. An diesem Punkt sollte die Sozialmedizin ansetzen und beratend zur Seite stehen. Gleichzeitig ist es eine politische Aufgabe, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu verändern, wenn gesundheitliche Chancengleichheit geschaffen werden soll.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Sozialmedizin im Hinblick auf die Zukunft?
Dr. Elisabeth Breithaupt: Leider gibt es einige davon. Die Chancenungleichheit in der medizinischen Versorgung, Armut und prekäre Lebenssituationen sind allgegenwärtig. Hinzu kommen die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels wie Hitzestress und Überflutungen sowie psychische Belastungen nach Katastrophen. Schauen Sie sich die Menschen im Ahrtal an: Nach der Flut von 2021 mögen die Mauern inzwischen hochgezogen sein, doch noch heute leiden viele Menschen psychisch. Und dann sind da noch neue Infektionskrankheiten. Covid-19 hat uns schmerzlich vor Augen geführt, wie schnell das gesamte System aus dem Gleichgewicht geraten kann. Es wird also nicht leichter, Menschen so zu unterstützen, dass sie gesundheitlich stabil bleiben und ihre Gesundheit schützen.

