„Es ist eigentlich erschreckend, dass es ungewöhnlich ist, sich darüber Gedanken zu machen“, sagte Dr. Andreas Schießl, Ärztlicher Leiter des Vereins PSU-Akut e.V., gleich zu Beginn seines Vortrags zu diesem Thema. In bestimmten Belastungssituationen müsse man auf sich selbst schauen und sich gegenseitig unterstützen können, ohne das Verhalten oder die Empfindungen zu pathologisieren.
Bei der kollegialen Unterstützung fehlt etwas
Er selbst habe ein Schlüsselereignis als Notarzt erlebt, das ihn für das Thema der psychosozialen Unterstützung sensibilisiert habe. Eine Person war unter eine U-Bahn geraten und er hatte vor Ort feststellen müssen, dass er dieser Person nicht mehr helfen konnte. Anschließend wollte er nachschauen, wie es dem U-Bahnfahrer ging. „Neben dem Fahrer saß aber schon jemand“, erzählte Schießl. Denn die Stadtwerke hätten sich auf solche Situationen eingestellt und ein System aufgebaut, um Kolleginnen und Kollegen zu helfen. „Da ist mir bewusst geworden: Uns fehlt etwas“, stellte der Mediziner klar.
Aus diesem Gedanken entstand schließlich der Verein PSU-Akut e.V. Dabei handelt es sich um einen ärztlich geleiteten Verein, der an oberste Stelle den Gedanken der kollegialen Unterstützung auf Augenhöhe setzt. Es gehe nicht darum, Psychotherapeut zu sein, sondern die ersten Dinge aufzufangen, die man als Fachkollege oder -kollegin kenne und verstehe.
Mögliche belastende Situationen für Ärztinnen und Ärzte
„Haben Sie nur Mut“, riet Schießl den angehenden Ärztinnen und Ärzten. Auf der einen Seite sei der Arztberuf zwar herausfordernd, anstrengend und könne auch belastend sein. Aber auf der anderen Seite sei es ein wunderbarer, sinn- und wertstiftender Beruf. Man brauche insgesamt ein realistisches Berufsbild, das schütze einen selbst.
Doch welche Situationen und Ereignisse können zu einer Belastung führen? Schießl führte hier einige Beispiele an:
- tragische, unerwartete Todesfälle oder Verletzungen von Patientinnen/Patienten oder Kolleginnen/Kollegen (beispielsweise Suizid, Unfall)
- beinahe Todesfälle oder Schädigung
- Reanimationssituationen (besonders mit Kindern)
- Fehler/Beinahe-Fehler (ggf. mit Patienten-/Kollegen-/Eigengefährdung/-verletzung)
- Gewalttaten/Aggressionen gegenüber Mitarbeitenden oder Patientinnen/Patienten
- Ereignisse mit starker Identifikation (beispielsweise bekannte Patientinnen/Patienten)
- sexualisierte Gewalt durch Mitarbeitende oder Patientinnen/Patienten
- Großschadensereignisse, Katastrophen (beispielsweise Pandemie)
Das bedeute jedoch nicht, dass so eine Situation auch immer belastend sein müsse. „Es ist die subjektive Einschätzung des Ganzen“, erklärte der Mediziner. Auch Ereignisse, die einer als klein erachte, könnten für die andere schwerwiegend sein. „Bei jeder Stressreaktion geht es nicht um das Ereignis selbst, sondern um den Umgang damit.“
Hilfe durch psychosoziale Unterstützung bei PSU-akut e.V.
Ist eine behandelnde Person durch ein außergewöhnliches klinisches Ereignis belastet, spricht man vom Second Victim Phänomen. First Victims sind die Patientinnen und Patienten, die täglich behandelt werden. „Aber vergessen hat man eigentlich die, die in dieser Situation involviert sind“, sagte Schießl. Wie man mit diesen Personen umgehe, darum gehe es beim Second Victim Phänomen. Man habe festgestellt, dass es hier hilfreich sei, mit Kolleginnen oder Kollegen zu sprechen, die solche Situationen nachempfinden können.
Laut einer Studie zur Auswirkung medizinischer Fehlerlebnisse bei schweizerischen Anästhesistinnen und Anästhesisten fühlen sich 90 Prozent der Befragten nach solchen Ereignissen nicht ausreichend unterstützt. Dabei führte ein schwerer Zwischenfall bei 63 Prozent von ihnen zu Ängsten, die die Berufsausübung beeinträchtigten, bei 54 Prozent zum Verlust des Vertrauens in die eigene ärztliche Fähigkeit und bei 36 Prozent zu einer Beeinträchtigung der Zufriedenheit im Beruf. Im Arztberuf gebe es immer solche Situationen. „Da geht keiner ohne so ein Ereignis raus“, bestätigte Schießl. „Aber es geht darum, gut vorbereitet zu sein und es gut durchzustehen.“ Den letztlich mache einen dieser bewältigte Stress immer stärker.
Eine Veränderung passiere immer auf drei Ebenen:
- Persönlich: Jeder Person muss selbst wissen, was ihm oder ihr gut tue (zum Beispiel: Resilienz, Entspannungsverfahren, Stressmanagement, Sport, Meditation … )
- Gruppe/Umfeld: Die Frage, was uns in der Gruppe hilft (Partizipation zum Beispiel an Supervision, Gesprächskultur, Balintgruppe)
- Institution: Welche Angebote gibt es? (Führungsverhalten, Hilfestrukturen, Betriebsklima, Mitarbeiterfürsorge etc.)
Die Arbeit des Vereins PSU-Akut e.V. setze mit sogenannten Kollegialen Unterstützerinnen und Unterstützern (Peers) in der Verhaltensprävention bei schwerwiegenden Situationen ein. Das geschieht sowohl in der primären Prävention vor einem Ereignis als auch in der sekundären und tertiären Prävention nach einem Ereignis. Der Peer-Support kann im eigenen Krankenhaus stattfinden, was ihn schnell erreichbar, unkompliziert und gleichzeitig vertraut und niederschwellig macht. Aber auch ein externes Angebot mittels kollegialer Unterstützung am Telefon ist möglich. Die Vorteile dabei sind Anonymität, Vertraulichkeit und eine gegebenenfalls geringere Hemmschwelle, da die Personen nicht Teil des eigenen Teams sind.
Ein Peer spricht die Sprache der Kolleginnen und Kollegen vor Ort und agiert auf Augenhöhe. Er oder sie ist Ansprechpartner, aber soll nicht als Therapie dienen, sondern zur frühzeitigen Erkennung von Risikoverläufen und als Schlüssel zum Netzwerk der psychosozialen Unterstützung. Die Gespräche mit dem Peer finden immer in einem vertraulichen und geschützten Rahmen statt. Im PSU-Team arbeiten Peers eng mit Psychosozialen Fachkräften und approbierten Psychotherapeutinnen und -therapeuten zusammen.
PSU Helpline
Kollegiale Unterstützung bei besonderen Belastungssituationen und schwerwiegenden Ereignissen für alle Mitarbeitenden und Führungskräfte im Gesundheitswesen.
0800 0 911 912
Täglich von 09.00 bis 21.00 Uhr
Kostenfrei. Vertraulich. Anonym
Instagram: psu_akut
Facebook: PSU-Akut e.V.
Webinar
Mehr zu diesem Thema findest du auch in unserem Webinar “…wenn es doch passiert: Umgang mit belastenden Erfahrungen im Arbeitsalltag”, das du on demand hier anschauen kannst: Jetzt ansehen!
Quelle: Vortrag „… wenn es doch passiert“: Kollegiale Unterstützung bei schwerwiegenden Ereignissen, Dr. med. Andreas Schießl, Oberarzt im Fachzentrum für Anästhesie und Intensivmedizin in der Schön Klinik München-Harlaching, Ärztlicher Leiter des Vereins “PSU-Akut e.V.”, Operation Karriere Heidelberg, 25.11.2023