“Ich erinnere mich noch heute an die Namen der Patienten, die ich im ersten Dienst betreut habe”, verriet Weniger zu Beginn. Er selbst habe den ersten Dienst als einen Sprung ins kalte Wasser erlebt: Zwar hatte ihm die Klinikleitung im Vorfeld versprochen, dass er in den ersten zwei Monaten nicht zu Diensten eingeteilt werden würde, aber trotzdem war es dann direkt am zweiten Tag soweit. “Für mich war das der pure Stress”, erklärte der Stressmediziner.
Atemnot, Pulsrasen, Schweißausbrüche oder hektische Flecken auf der Haut: Stress kann sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise bemerkbar machen. Auch, wenn sich das meistens unangenehm anfühlt: Generell sei Stress eine gesunde, notwendige und im Ernstfall überlebensnotwendige Reaktion des Körpers auf einen äußeren Reiz, erklärte Weniger. Die Begegnung mit einem aggressiven Kampfhund könne beispielsweise deutliche Stressreaktionen auslösen. Und darauf reagiert der Körper: So wird bei Stress der Bereich des Frontalhirns von der Amygdala abgeschaltet, der unter anderem für strategisches Denken und Empathie zuständig sei. Bei akutem Stress wie einem Angriff durch einen Hund sei das wenig hilfreich, so Weniger.
Angriff, Flucht oder Schockstarre
Stattdessen schalte der Körper entweder auf Angriff, Flucht oder Schockstarre (tot stellen) um. Diese standardisierten Reaktionsweisen seien bei einem Angriff durch ein Tier zwar nützlich, beim ersten Dienst oft aber nicht: Denn gerade bei schwierigen Kommunikationssituationen werde man durch Stress schlechter. “Angriff” könne hier beispielsweise laute, aggressive oder zynische Reaktionen bedeuten. Im “Fluchtmodus” entschuldige man sich dagegen für Dinge, für die man sich eigentlich nicht entschuldigen müsste, oder man versuche, irgendwie vom eigentlichen Thema abzulenken. “Schockstarre” führe dazu, dass heikle Themen aus Angst überhaupt nicht angesprochen werden.
In Bezug auf den ersten Dienst sei keine dieser Reaktionen nützlich, weil das eigentliche Ziel – die gute Patientenversorgung – dabei aus den Augen verloren werde. “Erst einige Stunden später, wenn das Stresslevel wieder absinkt und das Frontalhirn wieder normal funktioniert, fallen einem häufig bessere Antworten und Lösungswege ein”, erklärte Weniger – verbunden mit der Vorstellung “Beim nächsten Mal mache ich es besser”.
Um besser zu reagieren, müsse man zunächst die eigenen Stressreaktionen kennen: Sind es verkrampfte Schultern oder ein trockener Mund? Zeigen sich diese Anzeichen, könne man ganz bewusst einen Schritt zurück gehen und die Zeitspanne zwischen Reiz und Reaktion verzögern, riet Weniger. So bekomme man mehr Wahlfreiheit, um besonnener zu reagieren. Wichtig sei es, den Stress anzunehmen und nicht dagegen anzukämpfen. Es sei auch völlig okay, Stress zu zeigen – das sei natürlich, und auch alle Kolleginnen und Kollegen seien schonmal in solch einer Situation gewesen.
Mehr Resilienz gegen Stress durch gute Vorbereitung
Besonders stressresiliente Menschen haben die Fähigkeit, selbst auf ihre Amygdala einzuwirken und den Stress so aktiv zu reduzieren. Und das könne man lernen: Das Stresslevel des ersten Dienstes werde glücklicherweise mit größerer Berufserfahrung reduziert.
In einer stressigen Situation helfen vor allem strukturierte Planentscheidungen. Gemeint sind damit Pläne und Checklisten, die die häufigsten Krankheitsbilder abbilden – man müsse sich im Vorfeld Gedanken darüber machen, was in bestimmten Situationen zu tun sei: Wie ist der Ablauf, wenn ich es mit einem Polytrauma zu tun bekomme? Was passiert bei einem Schlaganfall? “Ein gutes Krankenhaus sollte solche Pläne haben, die man pragmatisch aus der Schublade ziehen kann, wenn es darauf ankommt”, erklärte Weniger. Solche Strukturen helfen, im Ernstfall nichts Wichtiges zu vergessen und geben Sicherheit – sowohl für die jungen Ärztinnen und Ärzte als natürlich für auch Patientinnen und Patienten. “So arbeiten auch andere Berufsgruppen mit hohem Stresslevel, beispielsweise die Polizei und die Feuerwehr”, verriet Weniger.
Außerdem sollte man sich im Vorfeld des ersten Dienstes mit dem zuständigen Oberarzt oder der zuständigen Oberärztin oder erfahreneren Kolleginnen und Kollegen austauschen. “So findet ihr heraus, ob es schon solche Pläne in der Schublade gibt”, riet Weniger. Wenn es bisher keine entsprechenden Pläne gibt, könne man in Zusammenarbeit mit dem Team solche Listen erstellen – beispielsweise auch mit den gängigsten Medikamenten.
Eine gute Idee sei es auch, mal einen Kollegen oder eine Kollegin bei einem Dienst zu begleiten und zu hospitieren, empfahl der Stressmediziner – beispielsweise in den ersten Stunden eines Nachtdienstes. Dabei könne man sich auch fragen, wie man selbst in der jeweiligen Situation reagiert hätte. Außerdem sei es wichtig, im Vorfeld ganz klar die Erwartungshaltung des oder der Vorgesetzten abzuklären. Es gebe Sicherheit zu wissen, wann man beispielsweise den Hintergrund anrufen könne. Allen Beteiligten sollte dabei klar sein, dass die Patientensicherheit immer Vorrang habe.
Mehr Resilienz gegen Stress durch Emotionsregulation
Eine andere Methode, um aus dem Teufelskreis der Stressreaktion auszubrechen, seien Entspannungsmethoden. Auch bei Stress und engem Zeitplan gebe es Möglichkeiten, sich auf den Punkt zu entspannen, beispielsweise mit bestimmten Atemtechniken:
- Die 2+1-6 Methode: Dabei atmet man zunächst doppelt so lange ein wie sonst und setzt dann noch einen drauf. Anschließend wird langsam ausgeatmet. Die Übung kann auch mehrmals nacheinander gemacht werden. Sie entspannt körperlich, aber auch psychosomatisch.
- Vier Quadranten-Methode: Dabei teilt man den eigenen Kopf gedanklich in vier Quadranten auf und nimmt sich jeweils einen langen Atemzug Zeit, in jeden davon bewusst hineinzuspüren. Diese Technik kommt unter anderem bei Spezialeinheiten der Polizei zum Einsatz.
Im Stress sei es wichtig, so genannte “kognitive Notfallreaktionen” zu vermeiden, mahnte der Stressmediziner. Damit sei gemeint, in einer Stresssituation einfach irgendwie zu reagieren. Das erzeuge ein Gefühl, selbst aktiv zu sein und die Situation dadurch scheinbar unter Kontrolle zu bringen. Aber: Die jeweilige Reaktion sei mit Blick auf das Patientenwohl nicht unbedingt die Richtige.
Weniger empfahl, sich in jeder Situation 30 Sekunden Zeit zu nehmen, um sich einen Überblick zu verschaffen, statt kopflos zu handeln: Was ist überhaupt los? Was machen die anderen im Team gerade? Und wie geht es mir? “Ich finde die ’30-Sekunden-hast-Du-immer’-Regel sehr hilfreich”, verriet der Stressmediziner. Früher war es in der Notfallmedizin üblich, am Einsatzort direkt zu handeln und z.B. mit der Reanimation zu beginnen. Heute sei es völlig in Ordnung, zunächst einmal innezuhalten, um sich einen Überblick zu verschaffen und dadurch den Stress zu reduzieren.
Mehr Resilienz gegen Stress durch gute Nachbereitung
Nach dem Dienst sollte man sich nochmal Feedback von Seiten des Oberarztes oder der Oberärztin holen. Die Feedbackkultur sei in Krankenhäusern noch immer nicht sehr stark ausgeprägt, erklärte Weniger – daher müsse man das Feedback aktiv einholen. Es sei eine gute Idee, mit den entsprechenden Patientenakten zu dem oder der Vorgesetzten zu gehen und die einzelnen Fälle nochmal durchzusprechen. So lerne man auch, wann man gut reagiert habe und was man beim nächsten Mal besser machen könne.
Wichtig sei es auch, eine gute Beziehung zum Pflegepersonal aufzubauen. Denn: Hier arbeiten Leute mit viel Erfahrung, die im Notfall helfen können. Dafür sei es aber wichtig, auch unter Stress freundlich zu bleiben. Wer unter Stress ruppig reagiere, sollte sich hinterher bei der Pflege entschuldigen und den gemeinsamen Einsatz reflektieren, riet Weniger. Denn nur so entstehe ein gutes Beziehungsgeflecht, das während des Dienstes Sicherheit biete.
“Irgendwann muss man springen”
“Es ist normal, dass der Gedanke an den ersten Dienst Stress und Angst auslöst. Der Mensch ist ein Vermeider und würde auch diese Gefühle gern vermeiden. Aber irgendwann muss man halt springen – am besten so gut vorbereitet und abgesichert wie möglich”, brachte Weniger seine Botschaft auf den Punkt. Dabei stehe der Stress in einem direkten Zusammenhang zur Leistung – und zwar in Form einer Glockenkurve: Bei wenig Stress sei auch die Leistung gering, mit zunehmendem Stress steige die Leistung bis zu einem gewissen Punkt erstmal an. Aber: Bei zu viel Stress sinke die Leistungskurve wieder stark ab. Die gute Nachricht: Diese Kurve lässt sich auch verschieben – und zwar durch leichte Überforderung und die Erfahrung, dass man solchen Situationen gewachsen ist. Aber auch Pausen sind nötig, um wirklich einen Lerneffekt zu erreichen.
So durchlaufen junge Ärztinnen und Ärzte mit zunehmender Erfahrung mehrere Phasen des Sicherheitsempfindens während der Dienste:
- Phase 1: Begründete Unsicherheit: Unerfahrene Ärztinnen und Ärzte fühlen sich während ihrer ersten Dienste aus gutem Grund unsicher, weil sie wenig Erfahrung mit der Situation haben.
- Phase 2: Unbegründete Sicherheit: Nach einigen Diensten schleicht sich ein gewisses Sicherheitsgefühl ein. Die Situation ist nicht mehr ganz neu und man fühlt sich dem Dienst gewachsen. Aber Achtung: In dieser Phase passieren die meisten Fehler, weil man sich selbst im Vergleich zu den früheren Diensten überschätzt und zu wenig hinterfragt.
- Phase 3: Begründete Sicherheit: Inzwischen hat man tatsächlich genug Erfahrungen gesammelt, um sicher mit den Herausforderungen des Dienstes umgehen zu können.
Webinar
Mehr zu diesem Thema findest du auch in unserem Webinar “Keine Angst vor dem ersten Dienst: Vorbereitung und Tipps”, das du on demand hier anschauen kannst: Jetzt ansehen!
Quelle: Dr. Matthias Weniger, Institut für Stressmedizin Rhein Ruhr (ISM), Workshop III: “Keine Angst vor dem ersten Dienst: Tipps vom Stressmediziner”, Operation Karriere Köln am 28.10.2023
