Frau Dr. Hauth, Sie haben Ihre Erfahrungen aus dem Klinikalltag in dem Buch „Keine Angst!“ verarbeitet, in dem Ängste und Depressionen im Fokus stehen. Was wollen Sie damit erreichen?
Dr. Iris Hauth: Die Idee dahinter war es, aus Sicht einer Psychiaterin ein Buch zu schreiben, das anschaulich und einfach zu lesen ist. Außerdem wollte ich die persönliche Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankung schildern. Das Buch richtet sich an Betroffene, die sich darin wiederfinden können, aber auch an die Allgemeinbevölkerung: Viele haben in ihrer Umgebung jemanden, der an psychischen Problemen leidet – oder sie haben zumindest etwas davon gehört. Das Buch soll aber auch helfen, die Tabus und die Stigmatisierung zu durchbrechen: Schließlich gibt es immer noch Vorurteile gegenüber psychisch Kranken und der Psychiatrie. Und mir war die Vernetzung mit gesellschaftlichen Themen wichtig: Gesellschaftliche Entwicklungen wie beispielsweise die Digitalisierung, Globalisierung, komplexe Herausforderungen am Arbeitsplatz, wirken sich auf das Erleben der Menschen aus. Sie können Befürchtungen und Ängste und möglicherweise chronischen Stress erzeugen. Dieser wiederum kann Risikofaktor zur Entwicklung von psychischen Erkrankungen sein.
Stichwort Tabuisierung: Warum ist es wichtig, dass in unserer Gesellschaft mehr über psychische Probleme gesprochen wird?
Dr. Iris Hauth: Es geht in Form von Statistiken viel durch die Medien. Das Thema bleibt in dieser Form oft sehr abstrakt. Aber psychische Erkrankungen sind Volkskrankheiten: Jeder dritte Mensch in Deutschland ist einmal im Jahr von einer psychischen Erkrankung betroffen, z.B. von einer Depression oder Angststörung. Und trotzdem gibt es immer noch Unsicherheiten, aber auch negative Gedanken und Vorurteile im Umgang mit psychisch Erkrankten – obwohl so viele Menschen betroffen sind. Das ist fatal und daran müssen wir etwas ändern.
Die Vorurteile gegen die Psychiatrie haben Sie schon angesprochen. Haben auch Medizinstudenten falsche Vorstellungen, die Sie am Anfang erstmal abbauen müssen?
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Dr. Iris Hauth: Diese Bilder von verschlossenen Türen, Menschen in Klinikkleidung und festgeschnallten Patienten sind in den Köpfen der Menschen noch verankert. Diese Zeiten sind natürlich längst vorbei. Aber auch Filme und manche Medienberichte verstärken diese Bilder und Vorurteile. Auch Medizinstudenten sind davor nicht gefeit. Die Psychiatrie kommt erst im fünften Studienjahr vor – aus meiner Sicht ist das viel zu spät. Die Studenten müssten schon in den ersten Semestern einen überzeugenden Psychiatrie-Dozenten haben, der auf eine spannende Art interessante Fälle darstellt. So wird ihnen gezeigt, dass es mittlerweile eine gute Diagnostik und viele Therapiemöglichkeiten gibt. Und das ganz Besondere an der Psychiatrie ist, dass wir uns mit dem ganzen Menschen beschäftigen: nicht nur mit seinen Symptomen, sondern auch mit seiner Lebensgeschichte und seinen aktuellen Konflikten. Und vor allem steht die Arzt-Patienten-Beziehung absolut im Mittelpunkt. Patienten in einer vertrauensvollen Beziehung über längere Zeit zu begleiten und helfen zu können, bringt viel Motivation mit sich.
Nehmen heutzutage die psychischen Erkrankungen zu oder geben einfach mehr Menschen als früher zu, psychisch krank zu sein?
Dr. Iris Hauth: Die Prävalenz ist hoch, aber sie hat sich in den letzten 20 Jahren nicht erhöht. Aber Menschen geben mittlerweile eher zu, dass sie psychische Probleme haben – deswegen wirkt es so, als hätten wir mehr damit zu tun. Die Betroffenen trauen sich häufiger, ihr Leid zu schildern und sagen nicht einfach „Ich habe Rücken“, wenn es ihnen nicht gut geht. Ärzte sind für dieses Thema aber auch sensibler als früher und sprechen ihre Patienten eher darauf an. Deshalb bekommen heute Menschen eine Therapie, die früher vielleicht mit ihren Problemen allein geblieben wären.
Was hat sich bei der Therapie von Depressionen und Ängsten in den letzten Jahrzehnten verändert?
Dr. Iris Hauth: Bei beiden Erkrankungen empfehlen die wissenschaftlichen Leitlinien Psychotherapie und bei schweren Verläufen zusätzliche Psychopharmaka-Behandlung. Die meisten Patienten werden ambulant bei ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten behandelt. Reicht das nicht aus, stehen Tageskliniken zur Verfügung, die das gleiche Therapieangebot wie Stationen mit Einzel- und Gruppentherapie, Entspannungsverfahren, kreativen Therapien und Bewegungstherapien anbieten. Die Patienten gehen von montags bis freitags tagsüber in die Tagesklinik – wie auf die Arbeit. Für viele Patienten ist dieses tagesklinische Angebot viel attraktiver, weil sie nach 16:00 Uhr wieder zu Hause bei ihrer Familie sein können und in den normalen Alltag integriert sind. So lässt sich das in den acht Stunden Therapie pro Tag Erlernte gleich im Alltagsleben umsetzen.
Die Digitalisierung haben Sie schon angesprochen: Wir sind ständig online und nutzen zig Apps. Wie hoch ist das Risiko, gerade damit Depressionen und Angstzustände auszulösen?
Dr. Iris Hauth: Die Vorteile der digitalen Welt sind klar: Wir haben immer Zugang zu Informationen, wir können jederzeit mit Leuten auf der ganzen Welt kommunizieren. Allerdings hat das auch Nachteile. Man ist immer online, das kann zu einer permanenten Belastung und zum Nicht-Abschalten-Können führen. Gerade bei beruflich stark eingespannten Menschen kann das zu noch mehr Belastung führen. Es stellt sich auch die Frage, inwiefern die analoge Kommunikation darunter leidet. Und ab wann bekommt das Online-Sein Suchtcharakter? Für Jugendliche entsteht in den sozialen Medien ein Druck, immer etwas Tolles und Einzigartiges posten zu müssen, was den Leistungs- und Selbstoptimierungsanspruch noch erhöht. Die allumfassende Präsenz der digitalen Möglichkeiten hat unsere Gesellschaft in den letzten Jahren überrollt. Eine gesellschaftliche Diskussion über deren Nutzen und Risiken müsste dringend geführt werden. Ziel sollte sein, die digitale Welt als Instrument der Informationsgewinnung und der Kommunikation zu sehen, aber nicht als ständigen Begleiter, von dem man abhängig wird und bei Entzug Unruhezustände bekommt. Wir alle, besonders aber Kinder und Jugendliche, sollten eine Kompetenz entwickeln, mit diesen Medien umzugehen, ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Grenzen zu sehen.
Ein Teil Ihrer Arbeit als Psychiaterin ist auch die Arbeit mit Patienten, die nicht freiwillig in den stationären Bereich der Klinik kommen. Wie muss man als Psychiater mit diesen Patienten im Vergleich zu denen umgehen, die freiwillig kommen?
Dr. Iris Hauth: Das betrifft weit weniger als 10 Prozent aller stationären Patienten. Aufgrund ihrer akuten Erkrankung ist zuweilen ihre Möglichkeit zur Selbstbestimmung eingeschränkt. In diesen Fällen ist es ärztliche Pflicht und Fürsorge, diese Menschen in Behandlung zu bringen, damit sie möglichst bald wieder selbstbestimmt leben können. In Deutschland liegt es aber nicht nur in den Händen der behandelnden Ärzte, ob ein Mensch gegen seinen Willen in eine Klinik eingewiesen wird, sondern regelhaft müssen Richter auf Grundlage eines ärztlichen Gutachtens darüber entscheiden. Juristische Grundlagen für diese Entscheidung sind die Ländergesetze für psychisch Kranke oder eine Unterbringung zur Behandlung im Rahmen einer sogenannten Betreuung, die im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt ist.
Als Arzt muss man den Patienten von der ersten Sekunde an ein Beziehungsangebot machen, kontinuierlich Vertrauen aufbauen und Hoffnung vermitteln. Wichtig ist es auch, den Patienten aufzuklären, damit er vielleicht nach ein paar Tagen in eine Behandlung einwilligt. Neben den Gesprächen wird die Behandlung auch durch Medikamente unterstützt. Das Ziel ist, dass die Symptome wieder zurückgehen und der Patient möglichst bald wieder selbstbestimmt leben kann.
Manchmal schlagen die Behandlungen nicht an – im schlimmsten Fall kann es zu einem Suizid kommen. Als Arzt fragt man sich dann vielleicht, ob man bei der Behandlung etwas falsch gemacht oder übersehen hat. Was raten Sie Ihren Kollegen in so einem Fall?
Dr. Iris Hauth: Suizidale Gedanken oder Impulse können bei Krisen und vielen psychischen Erkrankungen auftreten. Insofern ist bei jeder Untersuchung und bei jedem Gespräch, gerade auch bei depressiven Patienten, die Frage nach der Suizidalität, nach den Gedanken, nicht mehr leben zu wollen, eine Muss-Frage. Wichtig ist, dass man eine gute therapeutische Beziehung aufbaut, die vertrauensvoll ist, damit der Patient auch ehrlich über mögliche Suizidgedanken spricht. Das gelingt häufig, aber nicht immer. Patienten leiden häufig unter Schuld- und Schamgefühlen. Sie sprechen nicht darüber, weil sie so schwer depressiv sind, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen können weiter zu leben. Da kann man sich als Arzt noch so sehr bemühen. Wichtig ist, dass man – falls es zu einem Suizid kommt – mit dem Behandlungsteam darüber spricht. Nicht im Sinne von Schuldgefühlen, sondern einer kritischen Analyse. Außerdem empfehle ich für jeden persönlich, dieses Thema auch in der Supervision anzusprechen. Man muss lernen zu akzeptieren, dass ein Mensch vielleicht trotz aller Mühen, die man sich in der Behandlung gemacht hat, nicht mehr zu retten ist. Wir haben Grenzen und sind nicht omnipotent.
Was muss ein junger Mediziner mitbringen, um ein guter Psychiater zu werden?
Dr. Iris Hauth: Wichtig ist es, Freude daran zu haben, einen Menschen ganzheitlich, also medizinisch körperlich und in seinen psychischen Funktionen wahrzunehmen. Das Spannende an der Psychiatrie sind die vielen Perspektiven. Gute Kenntnisse über das Gehirn und seine komplexen Funktionen sind Voraussetzung. Bildgebende Verfahren und Forschungen auf der molekularen Ebene haben dieses Wissen in den letzten Jahren enorm erweitert und öffneten die Möglichkeiten, psychische Erkrankungen in der Wechselwirkung zwischen biologischen Grundlagen und psychologischen und sozialen Auslösern erklärbar zu machen. Somit sind auch für die Behandlung pharmakologische Kenntnisse und, ganz wesentlich, das Erlernen von psychotherapeutischen Methoden wichtig. Da sich jede psychische Erkrankung vor dem Hintergrund einer Lebensgeschichte entwickelt, muss man Freude daran haben, mit Menschen in Beziehung zu gehen, ein von Vertrauen getragenes therapeutisches Angebot zu machen. Das ist die ständige Herausforderung und lässt unser Fach nie langweilig werden. Und wenn es gelingt, in persönlichen Gesprächen mit den Mitteln der Psychotherapie auf die Erlebens- und Verhaltensweisen der Patienten einzuwirken und damit ihre Erkrankung zu lindern oder zu heilen, ist das ein sehr erfüllendes Gefühl.
Buchtipp: Dr. Iris Hauth, Keine Angst!
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH
München 2018
288 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-8270-1376-7
Preis: 20,00 Euro