Auf der Internetseite der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) sind über 700 solcher Leitlinien für verschiedenste Indikationen abrufbar – wobei es sich nur bei 157 davon um S3-Leitlinien mit der höchsten Evidenzstufe handelt. Eben diese S3-Leitlinien sind Ergebnis langer und intensiver Arbeit, um ihre Qualität zu garantieren. Frau Prof. Dr. Karin Jordan, leitende Oberärztin im Universitätsklinikum Heidelberg, hat selbst die Erstellung der 2016 erschienenen S3-Leitlinie «Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen» koordiniert und gab dem Karger Verlag Einblick, wie eine solche Leitlinie entsteht und welche Schwierigkeiten und Besonderheiten es dabei gibt.
Wer entscheidet, dass eine Leitlinie erstellt werden soll?
In den meisten Fällen sind das Fachgesellschaften oder Arbeitsgemeinschaften der deutschen Krebsgesellschaften, die entscheiden, dass eine Leitlinie initiiert wird. Deren Vertreter schlagen letztlich vor, für welchen Bereich es wichtig wäre, Standards zu integrieren.
Ließen sich Leitlinien anderer Länder nicht adaptieren?
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Das kommt immer darauf an. Die Leitlinien der American Society of Clinical Oncology (ASCO) haben ein sehr hohes Evidenzlevel und sind teilweise vergleichbar mit den deutschen. Man kann Leitlinien-Adaptionen vornehmen, aber dann muss die Leitlinie auch das höchste Evidenzlevel haben, d.h. es muss eine systematische Literaturrecherche dahinterstehen. Eine solche Leitlinie würde geprüft werden, ob sie gewisse Qualitätsstandards erfüllt, und anhand derer wird entschieden, ob sie adaptiert werden kann. Teilweise unterscheiden sich ja auch die Vorgaben in Deutschland deutlich von den amerikanischen. Deswegen gibt es auch unsere «eigenen» S3-Leitlinien.
Was ist der erste Schritt bei der Entwicklung einer Leitlinie?
Bei S3-Leitlinien, die den höchsten Evidenzgrad haben, ist es so, dass nach dem Beschluss einer Fachgesellschaft, die Federführung zu übernehmen, zunächst ein Vorantrag beim Leitlinienprogramm Onkologie gestellt wird. Dieser Antrag wird dann innerhalb der Deutschen Krebshilfe und der AWMF diskutiert, um grob abzuschätzen, ob diese Leitlinie förderungsfähig ist, d.h. ob sich aus der Leitlinie ein Mehrwert für die Gesundheitsversorgung ergibt, ob das Thema zu speziell ist oder ob es überhaupt genug Evidenz für eine Leitlinie gibt.
Wie wird die Entwicklung von Leitlinien finanziert?
Die S3-Leitlinien im onkologischen Bereich werden ausschließlich durch die Deutsche Krebshilfe finanziert. Pharmasponsoring z.B. ist absolut verboten – ein größeres No-Go gibt es gar nicht. Außerdem werden nur S3-Leitlinien gefördert; für die Erstellung von S1- und S2-Leitlinien gibt es keine Finanzierung, dies wird als Ehrenamt wahrgenommen, aber auch in den S3-Leitlinien steckt viel unbezahlte Arbeit. Das betrifft sowohl die Tätigkeit des Leitlinien-Koordinators als auch die der Arbeitsgruppenmitglieder. Finanziert werden Bereiche wie die Arbeitsgruppentreffen vor Ort oder die Leitlinien-Sekretäre, die Ergebnisse zusammenschreiben oder sich um die Recherche kümmern, was ja sehr aufwändig ist.
Wie lange dauert die Entstehung einer Leitlinie?
Jahre! Wenn eine Leitlinie komplett neu erstellt wird, muss man schon mit mindestens 3 Jahren rechnen. Es gibt sogar Leitlinien, die innerhalb von 4 oder 5 Jahren erstellt wurden. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch ein Nachteil, wenn die Entstehung so lange dauert: Dann ist die Leitlinie fertig und muss im Grunde genommen schon wieder überarbeitet werden.
Ist die Gültigkeitsdauer einer Leitlinie von vorne herein festgelegt?
Das ist je nach Evidenzlage der Daten und Fachbereich unterschiedlich. Man kann als Leitlinien-Koordinator ungefähr abschätzen, wie lange die Daten noch aktuell sind, und legt das Update auf diesen Zeitraum fest. Wenn eine Leitlinie beispielsweise einen Bereich betrifft, in dem sehr häufig neue Medikamente zugelassen werden, dann muss natürlich alle 2 Jahre ein Leitlinien-Update stattfinden, um dem Wissensschub auch gerecht zu werden.
Wie viele Experten arbeiten an einer Leitlinie und wie wird die Arbeit organisiert?
Bei unserer S3-Leitlinie «Supportive Therapie» waren es insgesamt 80. Die schweizerischen und österreichischen Fachgesellschaften sind übrigens ebenfalls involviert, sodass die Leitlinie auch in der Schweiz und in Österreich gilt. Grundsätzlich gibt es verschiedene Arbeitsgruppen, die einzelne Themen bearbeiten. Meistens sind das 8 bis 9 Leute pro Gruppe, die zuerst einmal die Schlüsselfragen definieren und Literatur zum Thema aufarbeiten. Anschließend werden die Empfehlungen dazu formuliert. Zum Schluss werden die Empfehlungen in Konsenskonferenzen beschlossen, in denen alle Bearbeiter gefragt werden, ob sie mit der Formulierung einverstanden sind. Wenn nicht, wird diskutiert. Und so wird dies für jedes Kapitel gehandhabt. Die Arbeitskreise zur Erarbeitung und Erstellung einer Leitlinie werden von einem Koordinator geführt, einem anerkannten Experten auf dem jeweiligen Fachgebiet, der in der Regel aus einer der Fachgesellschaften kommt. Er hält die Fäden zusammen – alles geht durch seine Hand und wird von ihm final geprüft.
Wie findet man bei so vielen verschiedenen Perspektiven einen Konsens?
Schritt für Schritt. Man kann Empfehlungen vorher an die Bearbeiter senden – oder man kann per Survey Monkey einige Fragen vorabstimmen lassen. Bei sehr strittigen Fragen hilft auch ein Moderator vom Leitlinienprogramm Onkologie, der meistens dabei ist – in der Regel ist das Dr. Markus Follmann. Er stellt die Empfehlungen vor, die anschließend diskutiert werden, um letztendlich zu einer gemeinsamen Lösung zu finden. Das größte Problem ist, Experten, die unterschiedlicher Meinung sind, zu einem Kompromiss zu bewegen. Das haben wir als sehr aufwendig und schwierig empfunden. Aber es gibt auch einen Unterschied, zu welchem Konsens man kommt: «Starker Konsens» wäre mehr als 95% Zustimmung, «Konsens» mehr als 75%. Alles unter 75% muss weiter diskutiert werden. Eventuell muss man eine Frage noch einmal zurückstellen, wenn kein Konsens gefunden werden kann, schlimmstenfalls kommt auch bei erneuter Diskussion keiner zustande. Aber das passiert sehr selten. Wir haben bei der S3-Leitlinie «Supportive Therapie» überall mindestens einen Konsens gefunden.
Wie wird eine Leitlinie implementiert?
Das ist ein wunder Punkt und eine große Schwierigkeit, die bis jetzt noch nicht gut genug beantwortet ist. Es gibt natürlich die Webseite des Leitlinienprogramms, von der man die Leitlinien jederzeit herunterladen kann. Wichtig sind insbesondere die Kurzversionen. Zudem sind Fortbildungen erforderlich und die Leitlinie, bzw. Teilbereiche davon, müssen auf Fachkongressen vorgestellt werden. Außerdem bietet das Leitlinienprogramm Onkologie auch regelmäßig Seminare an, in denen die Leitlinie in Kleingruppen von meistens etwa 20 Ärzten noch einmal vorgestellt wird.
Gibt es Instrumente zur Evaluation bzw. Umsetzung in der Praxis?
Nein, noch nicht so richtig. Was es aber schon gibt, sind sogenannte «Qualitätsindikatoren» in onkologischen Zentren, die einen Hinweis darauf geben, wie die Leitlinie umgesetzt wird. Das bedeutet, dass für eine Leitlinie verschiedene Qualitätsindikatoren gebildet werden, z.B. der Qualitätsindikator «antiemetische Therapie» für die Leitlinie «Supportive Therapie». Dann muss das Zentrum vorweisen, wie viele Patienten behandelt wurden und wie viele von ihnen die standardisierte Leitlinien-konforme antiemetische Therapie erhalten haben. Daran kann man die Umsetzung der Leitlinie abschätzen. Das ist ein ganz elegantes Instrument.
Frau Professor Jordan, wir danken Ihnen sehr für das Interview!
“PneumoCampus”
KARGER KOMPASS PNEUMOLOGIE stellt den «PneumoCampus» vor – eine Rubrik, die dezidiert den Belangen junger Fachärzte und Weiterbildungsassistenten gewidmet ist. Sie gibt der jungen Ärzteschaft eine Plattform, um ihre Anliegen zu formulieren, aber auch um Wissen zu vermitteln und Hilfestellung in beruflichem und wissenschaftlichem Kontext zu geben: Zu Wort kommen die Jungmediziner in fachspezifischen Darstellungen, berufspolitischen Auseinandersetzungen sowie mit aktuellen Projektvorstellungen.