Ich bin für einen 24-stündigen Dienst auf der Gynäkologie in einem Universitätsklinikum. Der Dienst ist Teil der praktischen Ausbildung im Studium. Es ist Wochenende, daher betreuen die beiden Assistenzärztinnen alle vier Stationen – Kreißsaal, Wochenbettstation, Onkologie und Allgemeine Gynäkologie. Gegen acht Uhr abends wird ein Notfall eingeliefert. 52-jährige Frau mit exazerbiertem Mamma-CA.
Es ist schon mit bloßem Auge zu erkennen, dass der Körper der Frau vollständig durchmetastasiert ist. Beulen an Knochenvorsprüngen, Lymphstau in den Armen, bis auf die Mimik kaum noch eigenständige Bewegungen. Blut läuft aus den Exulcerationen an ihren Brüsten.
Ich habe einen Teil meines FSJs auf einer angiologischen Station verbracht. Da stehen Wunden mit Nekrosen, Blutungen und Maden auf der Tagesordnung. Aber das hier ist neu.
In der Vorlesung haben sie uns gesagt, so etwas gibt es nicht mehr. Die Therapien seien inzwischen zu gut. Wenn man sich denn therapieren lässt. Die Schwestern erzählen mir auf Nachfrage, so etwas sehen sie hier ständig.
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In so einem Moment fragt man nach Schmerzen und bietet Medikamente an, aber es kommt zu keinem wirklich tiefen Gespräch darüber, was in der Patientin vorgeht. Ob sie Angst hat. Wieso sie nicht zum Arzt gegangen ist. Dafür reicht die Zeit nicht. Und vielleicht ist das auch nicht auszuhalten – dass das hätte verhindert werden können.
Was passiert, wenn man es mal anspricht?
Ich habe die Patientin mit einer Pflegerin auf ein Zimmer gebracht. Zurück im Arztzimmer denke ich mir: Sprich es einfach mal an. Schau was passiert.
„Das war ganz schön heftig gerade!“. Die Antwort beschränkt sich auf das Fachliche. Nicht, weil die Ärztinnen nicht zugänglich wären – ich habe an diesem Tag nach zwölf Stunden Dienst schon über so Einiges mit ihnen geredet. Ich frage mich, ob sie sich dennoch die gleichen Gedanken machen wie ich. Es ist doch extrem, so oft so intensive Situationen zu erleben und nichts rauszulassen… Ich kann mir nicht vorstellen, dass man nach so einer Situation nicht darüber nachdenkt.
Aber erfahren werde ich es nicht, denn im Krankenhaus wird nicht geredet.
Im Krankenhaus geschehen oft Dinge, die wir außerhalb, in einem anderen Umfeld, als sehr belastend oder gar einschneidend wahrnehmen würden. Wir sehen, wie Menschen leiden, stärkste Schmerzen ertragen müssen und sterben.
Keiner redet darüber, wie schlimm es manchmal ist
In dieser Welt bekommt man, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, schnell mit, dass manche Ereignisse hier zum Alltag gehören. Denn keiner schenkt dem besondere Beachtung. Keiner redet darüber, wie schlimm das Ulcus gerade aussah oder was es für eine Patientin bedeuten muss, morgen ihren Fuß zu verlieren.
Dabei vergessen wir aber, dass es auch für Ärzte und Pfleger, die schon seit Jahren ihrem Beruf nachgehen, extreme Situationen sind. Und dass sie nur ihren Weg gefunden haben, mit der ständigen Belastung umzugehen – sei es mit schwarzem Humor oder einer abweisenden Haltung.
Im Krankenhaus würde Vieles vielleicht ganz anders laufen, wenn es an der Tagesordnung stehen würde, über Erlebnisse und extreme Situationen zu reden. Und zwar nicht nur auf fachlicher Ebene. Im Gegenteil, wir sollten uns alle selbst dazu bringen, aktiv über unsere Gefühle nachzudenken, uns selbst zu reflektieren. Dabei geht es nicht darum, das Geschehene ewig breit zu treten. Es geht vielmehr darum, sich selbst und den Menschen um sich herum bewusst zu machen, dass die Situationen, denen man ausgeliefert ist, nicht normal sind.
Solche kleinen Dinge können uns vielleicht helfen, bessere Ärzte zu werden, unsere Gegenüber besser zu verstehen und uns auf einen unheimlich wichtigen Aspekt unseres Berufes zu konzentrieren: Da sein, Beistand leisten, Zuhören.