Während der Oberarzt dem Patienten mit seiner Körpersprache und dem großzügigen Namensschild seine Chefarztnähe unter die Nase reibt, ringt der simple Facharzt vergeblich um Anerkennung. Auf Station ist der Facharzt kaum vom Assistenzarzt zu unterscheiden. Beide müssen den Überblick behalten und ihren Sklaventreiber Oberarzt stets auf dem Laufenden halten.
Er schwimmt sozusagen in der Ärztebasissuppe und möchte meist einfach nur seinen Job machen. Ausschließlich in dieser Gruppe konnte ich Ärzte kennenlernen, die den Arztberuf aus höheren Beweggründen ausüben. Auch wenn das die wenigsten sind, so nahm ich in meiner Zeit hier im Krankenhaus von den Stations-/Fachärzten bisher am meisten mit. Der Grund ist eigentlich ganz simpel. Die Ausbildung ist hier tatsächlich abgeschlossen. Das heißt, ab jetzt wird entweder nach höherer Position geschielt, oder man stürzt sich in die Arbeit seines Fachbereichs und spezialisiert sich schnellstmöglich auf ein bestimmtes Gebiet. Viele von ihnen halten sich die Türe offen, sich in naher Zukunft in der eigenen Praxis selbstständig zu machen. Diese Ärztegruppe hätte sich einen Platz mit Respekt verdient. Der Blick ist erstmals frei aufs Klinikgeschehen, und übertrieben belehrende Sprüche haben endlich ein Ende. Letztlich haben wir mit den Fachärzten die größte gehobene Ärztegruppe vorliegen, denn die wenigsten werden Oberarzt, noch weniger Chefarzt.
Wer einmal seinen Facharzt hinter sich gebracht hat, der ist in meinen Augen von wirklichem Nutzen für die Gesellschaft. Ihm sollte deutlich mehr Anerkennung zukommen vom Volk, als er bisher erfährt. Viele Ärzte bleiben nach ihrem Facharzt in einem Krankenhaus oder einer Gemeinschaftspraxis hängen und gehen in dieser Position auch in Rente. Derjenige von den Fachärzten, der sich nicht mehr länger dem Kampf um Aufstieg und Anerkennung hingibt, der hat klar gewonnen. Denn allein vor dem Patienten punktet er mit seiner Art. Gedankt wird es ihm dennoch wenig, und die Lorbeeren heimst in der Regel der Oberarzt ein. Seine Verabschiedung beim Verlassen eines Patientenzimmers überstrahlt die gesamte Zuwendung und eigentliche Arbeit des Facharztes. Derjenige, der noch Patientenbriefe selbst verfasst, gehört eben zur unteren Ärzteschicht.
Das ganze Studium und die bisherige Zeit in der Facharztausbildung dient nur zu einem minimalen Prozentsatz dazu, den Arztberuf praktisch auszuüben. Woher soll ein Mensch mit derart viel Verantwortung seine Erfolgserlebnisse bekommen, woher soll er seine Motivation bekommen, jeden Tag einen guten Job zu machen? Ich jedenfalls werde mir das nicht antun. Wofür soll das gut sein? Briefe schreiben und Dokumentation bis zum Umfallen dient zu null Prozent dem Patienten. Das Ganze dient ausschließlich zur Absicherung vor drohenden Klagen und dafür, auch tatsächlich das Geld von den Krankenkassen zu erhalten. Das wäre in etwa so, als würde ein Bäcker jeden Tag sieben Stunden Bestellformulare für Nahrungsmittel zur Herstellung seiner Backwaren ausfüllen sowie für jedes Brötchen ein Protokoll festhalten und noch eine Stunde mit Lieferanten über Preise verhandeln. Erst dann wäre er in der Lage, seine Brötchen und feinere Backwaren herzustellen. Dazu braucht er aber mehr als eine Stunde am Tag. Warum steht der Bäcker so früh auf? Na weil er einiges zu backen hat und die Kunden früh an seine Türe klopfen. Rechne ich noch den Verkauf hinzu, könnte der Bäckermeister direkt in der Backstube pennen gehen. Beziehungsweise gar nicht mehr schlafen. Oder nehmen wir einen Bahnfahrer. Es wäre etwa so, als würde er jeden Kunden nach seinem Fahrschein fragen und dokumentieren, ob der Fahrgast beförderungsfähig ist. Ich denke, tagsüber käme keine Bahn mehr vom Fleck. Die Qualität der Arbeit sinkt dadurch rapide ab.
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Würdest du noch einmal Medizin studieren? Nein!
Nehmen wir den Assistenzarzt Herrn Blender. Herr Blender möchte jetzt nicht mehr Internist werden. Auf meine Frage, ob er noch mal Medizin studieren würde, gab er mir ein klares Nein zurück. Warum macht er dann nichts anderes? Warum hat er solche Angst davor, sich gänzlich umzuorientieren? Ich denke, nach einem brutalen Medizinstudium traut sich keiner mehr, den Arztberuf aufzugeben, weil das einem Scheitern gleichkäme. Zumindest in den Augen der Betroffenen. Kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen scheitert an der mangeln-den Fähigkeit, sich zusammenzuschließen und gemeinsam abzu-lehnen. Mal wieder.
Herr Blender will jetzt also Angiologe werden. Seine Begründung wirkt auf mich wie eine weitere Flucht vor Unbequemlichkeiten: »Weniger Schreibarbeit. Weniger Diskussion.« Keine Ahnung, ob er recht hat. Vielleicht flieht er auch nur vor Chefarzt Dr. Forsch und Oberarzt Dr. Frankenstein. Des Öfteren habe ich Gespräche zwischen den beiden Parteien mitbekommen, nach denen Herr Blender mehr Gas geben soll. An seinem Spind kleben regelmäßig EKGs, auf denen vermerkt ist: »Bitte mal ordentlich lernen und Befunden üben! Ihre Auswertungen sind eine Katastrophe! Gezeichnet CA Dr. Forsch.« Kein Kommentar.
Daneben gibt es aber eben auch besagte Ärzte, die sich absolut positiv ihrem Job hingeben. Eben aus Berufung handeln. Dr. Selig zeigte und erklärte mir bisher immer in absoluter Gelassenheit alle Arbeitsschritte, bei denen ich anwesend war. Er weiß immer, mit wem er es zu tun hat, und weiß er es nicht, weil er die Person nicht kennt, dann vergisst er es ab dem ersten Zusammentreffen nicht mehr. Er ist der Einzige, der nicht immer nach meinem Semester fragt. Er weiß, wo ich mich befinde und was ich so zu tun habe. Ich durfte ihm mal beim Legen eines zentralen Venenkatheters, kurz ZVK, in die Jugularisvene am Hals assistieren. Ich war von seinem Geschick beeindruckt. Während des Eingriffs fand er noch Zeit, mich und alle anderen zu loben sowie mir alle Vor- und Nachteile der Gerätschaften als auch ihre Funktion zu erläutern. Insgesamt herrscht immer eine entspannte Atmosphäre in seinem Dasein. Er handelt aber auch größtenteils autonom. Sprich, es können nicht allzu viele Konflikte auftreten. Warum sein Ablagefach immer leer ist im Gegensatz zu den anderen, konnte ich allerdings nicht herausfinden. Aber dieser Mensch hat durchaus Vorbildcharakter für mich. Denn er wirkt im Großen und Ganzen nicht wie ein Arbeitstier oder so, als würde der Klinikalltag ihn fertigmachen oder übermäßig fordern. Andere Ärzte scheinen zudem eine Art Sicherheitsabstand zu ihm zu halten, wenn sie miteinander reden oder diskutieren. Es ist so, als würde sich niemand trauen, in seinen Mikrokosmos einzudringen. Schwer zu beschreiben. Er hat einfach was drauf.
FELIX OTTO, geboren 1983 in Düsseldorf, gewann als Ruderer mit der deutschen Rudernationalmannschaft den Weltmeistertitel. Jetzt studiert er Humanmedizin und will mit seinem Erfahrungsbericht: “Wie geht eigentlich Krankenhaus?” etwas zur Verbesserung der Krankenversorgung beitragen. Mehrere Jahre lang war er als Aushilfskraft auf “Visite”. Dabei hat er den Klinikbetrieb intensiv kennengelernt. Der obige Text ist aus einem Kapitel des Buches entnommen.