Herr Prof. Schedler, was machen Sie als Arzt auf See, wenn alle gesund sind?
Prof. Olaf Schedler: Als Arzt an Bord kümmere ich mich neben der Medizin vor allem um die Hygiene. Die Küche muss astrein, die Ladung keimfrei sein. Ich kontrolliere das alles, insbesondere die Lebensmittel, oft zusammen mit dem Koch. Auch Kabinenrundgänge in punkto Sauberkeit zählen dazu sowie eine Menge Administration. Denn je nachdem, um welches Schiff und Fahrgebiet es sich handelt, gibt es zumeist auch höhere Aufgaben, die man durchaus übernehmen kann. Dazu gehört beispielsweise die Gehaltsabrechnung der Seeleute. Wenn dann noch Zeit übrigbleibt, kann man tun, was man will. Die meisten Ärztinnen und Ärzte machen die üblichen Tätigkeiten an Bord gerne mit. So sind wir auf der Alex 2 in der sogenannten Altherrenwache verankert, von 8 bis 12 und 20 bis 24 Uhr – auch damit eine soziale Anbindung an die Mannschaft entsteht.
Waren Sie auch schon ganz oben in der Takelage auf 30 Metern?
Prof. Olaf Schedler: Natürlich, Rick rauf, Rick runter – alle drei in 22 Minuten.
Wie sieht das medizinische Equipment aus?
Prof. Olaf Schedler: Das in der maritimen Medizinverordnung genau festgelegt. Es gibt ein Behandlungszimmer, Hospital genannt. Darin befindet sich eine standardisierte Ausrüstung, je nach Route und Anzahl der Mitfahrenden. Die Alex 2 ist ein Traditionssegler, aber mit modernster Technik. Wir haben keinen OP, machen nur kleinere Eingriffe. Die Vorstellung, bei zehn Meter hohem Wellengang würde man auf wackligen Planken irgendeine Operation durchführen, ist echtes Seemannsgarn.
Was ist medizinischer Alltag?
Prof. Olaf Schedler: Alles was so vorkommen kann, im Grunde wie in einer hausärztlichen Praxis. Es gibt zwar einige Winden, aber Segel setzen und Taue ziehen passiert alles von Hand. Hand- und Hautverletzungen kommen daher recht oft vor, ebenso Schnittwunden. Auch Knochenbrüche gibt es immer mal wieder, aber nicht oft. Als Nicht-Orthopäde richte ich die Fraktur wieder ein, lege einen stabilisierenden Verband an und dann wird das ruhiggestellt. Nicht alles muss operiert werden, auch der spektakuläre Blinddarm ist gar nicht so häufig. Der wird in aller Regel mit normalen medizinischen Maßnahmen behandelt, wie Antibiose, Ruhigstellen, Diät, Bettruhe. Allerdings ist man an Bord auch „Seelen-Klempner“. Da häufig junge Leute mitfahren, sollte man sich schon mit dem Thema „Beziehungskiste“ auskennen – und mit gynäkologischen Anliegen. Schwangerschaftstests inklusive – alles da.
Und was ist bei medizinischen Herausforderungen?
Prof. Olaf Schedler: Im Gegensatz zu Kreuzfahrten mit den vielen Landgängen ist die Medizin beim sogenannten Blauwassersegeln schon herausfordernder. Aber Seeleute sind in der Regel fit. Damit es erst gar nicht zu großen Komplikationen unterwegs kommt, müssen sich alle, ob im Kapitäns- oder Matrosenrang, alle zwei Jahre der Seediensttauglichkeitsuntersuchung unterziehen. Wer Diabetes mellitus, eine angeborene epileptische Grunderkrankung oder ein anderes chronisches Leiden hat, kann nicht zur See fahren. Aber natürlich lässt sich nicht alles im Vorfeld ausschließen. Exazerbierte Probleme, wie eine angeborene Gerinnungsstörung, können plötzlich auftreten. Dann muss man mit den traditionellen Mitteln mit viel Ruhe und Bedacht diagnostizieren. Jetzt zählt die Erfahrung. Ich muss wissen, was ich mit dem vorhandenen Material behandeln kann und was nicht, und dementsprechend Behandlungsstrategien entwickeln, die im besten Fall ansprechen. Es gibt eben kein Labor oder Röntgen, sondern ich muss das Problem mit meinen ganzen Sinnen erfassen und eventuell überlegen, können wir die Reise damit fortsetzen? Und wenn ja, wie? Oder muss ich die Entscheidung treffen, dass das ganze Schiff seinen Kurs zu ändern und umzudrehen hat, was totalen Stress für alle bedeutet. Die Häfen sind gebucht, das kostet auch alles sehr viel Geld.
Was ist mit der Seetauglichkeit der Passagiere?
Prof. Olaf Schedler: Die gilt eingeschränkt auch für sie. Die Teilnehmenden müssen mit der Anmeldung versichern, dass sie organisch und psychisch gesund sind. Ich mache zudem eine „Gangway Visite“. Heißt: Wenn neue Leute ankommen, sitze ich draußen und schaue mir alle an. Wer genug klinische Erfahrung hat, erkennt seine „Pappenheimer“ sofort. Und dann spreche ich den- oder diejenige an, was oft sogar willkommen ist. Nicht selten sagt jemand dann, ich fühle mich eigentlich gar nicht so richtig fit, ich habe die Reise geschenkt bekommen. Das alles dient letztlich der Schiffssicherheit.
Welche Kompetenz ist neben der medizinischen an Bord noch wichtig?
Prof. Olaf Schedler: Soziale Kompetenz. Man muss sich eine gewisse Zeit lang mit anderen Menschen auf engstem Raum arrangieren. Ich habe als Arzt keine eigene Kabine wie der Kapitän, sondern teile mir eine der kleineren mit drei, vier Mitsegelnden. Bei schönem Wetter ist immer alles prima, aber wenn es regnet und stürmt, wird es spannend. Auch das muss ich als Schiffsarzt bewältigen.
Wie meinen Sie das?
Prof. Olaf Schedler: Seekrankheit hat viele Facetten. Bei einer Schwerwetterlage kommt auch bei gestandenen Seebären „Respekt“ auf. Das kann selbst die übermannen, sodass sie krank werden. Dabei sind Übelkeit und Erbrechen medizinisch betrachtet eine relativ einfache Sache, aber die psychosomatische Affektierung ist nicht zu unterschätzen. Oft denkt man zuerst: Ich muss sterben. Dann: Ich möchte sterben. Man kann zwar im Vorfeld viel dagegen tun, aber wenn die Witterung, ein abgelegenes Fahrgebiet und eine gewisse soziale Gemengelage zusammenkommen, kann der Großteil der Besatzung schon mal dienstunfähig werden. So eine Situation muss man händeln können – und natürlich selbst seefest genug sein, um nicht neben den Kranken zu liegen. Schiffsarzt ist ein Offiziersdienstgrad. Ist Not am Mann, übernehme ich auch mal andere Positionen, die im Moment nicht mehr besetzt sind, ob Ausguck oder Steuerruder. Vom Matrosen bis zum Steuermann können die meisten Ärztinnen und Ärzte dann schon mal das Kommando haben.
Wie lernt man das denn?
Prof. Olaf Schedler: Seit Ende 2024 ist das Zertifikat Maritime Medizin bei der Bundesärztekammer gelistet. Jeder Arzt, jede Ärztin, die zur See fahren will, muss diesen Kurs jetzt absolvieren. Dort lernt man Grundkenntnisse in der Nautik sowie die gesetzlichen Regulierungen der internationalen Seefahrt, die auch die Medizin betreffen. Sollten zehn Prozent der Passagiere und Besatzungsmitglieder erkrankt sein, liegt das Schiff vor dem Hafen in Quarantäne. Außerdem beinhaltet die Ausbildung ein Bordpraktikum von 14 Tagen.
Die meisten Ärztinnen und Ärzte, die viele Jahre bei uns mitfahren und das Schiff und die Regulatorien auch gut kennen, dürfen ausbilden. Sie können also jemanden mitnehmen und ihm oder ihr alles beibringen. Zudem finden regelmäßig Ausbildungstörns auf der Alex 2 statt. In bestimmten Rhythmen haben wir bis zu 100 Ärztinnen und Ärzte an Bord, die sich in maritimer Notfallmedizin üben. Alle drei Jahre führen wir außerdem eine gemeinsame Übung mit dem sogenannten Havariekommando durch. Hier stößt dann ein Schiff simuliert mit einem anderen in der Deutschen Bucht zusammen und gerät in Brand. In diesem Setting belegen zumeist die Ärzte dieses Kurses das havarierte Schiff.
Wovor hätten Sie Angst?
Prof. Olaf Schedler: Eine Reanimation ist für alle emotional sehr belastend. Auch wenn sie zunächst erfolgreich verläuft, stellt sich die Frage, was man machen soll, wenn es noch tausend Meilen in die eine und tausend Meilen in die andere Richtung bis zum nächsten Hafen sind? Da hilft nur Gott oder die See. Mit Glück überlebt das jemand, aber wahrscheinlich eher nicht. Deswegen gibt es standardisiert im Schubfach 52 oben links die schwarzen Säcke. Ab 50 Seemeilen endet jede Rettungsmaßnahme von Land aus. Auch der Hubschrauber kommt nur in Küstennähe. Man kann nicht alles organisieren. Das muss man auch wissen. Wir hatten das zum Glück noch nicht. Aber wir waren schon ganz schön dicht dran.
Was war Ihr schönster Törn?
Prof. Olaf Schedler: Besonders gern denke ich an meinen ersten 1993 zurück von den Bermudas auf die Azoren. Es gibt viele Strecken über die Ostsee, Richtung Skagerrak und durchs Mittelmeer, aber die Alex ist letztlich ein Hochseeschiff und fährt über den Atlantik bis Kanada und Neufundland. Und wenn Sie drei Monate nur Wasser sehen, Wind spüren und das Schiff „rollt“ regelmäßig und schier endlos von links nach rechts, ist das Seefahrer-Romantik pur. Man ist eben nicht an Bord eines Kreuzfahrtschiffes auf dem 15. Deck, sondern spürt das Wasser hautnah.
Die wunderbarsten Momente entstehen dabei ganz spontan, wenn man Wale trifft oder nach langer Zeit eine Landkuppe sieht. Aber auch wenn abends einer auf dem Akkordeon spielt und alle singen mit. Das Schönste ist aber, Teil der Mannschaft zu sein, seine Kompetenz zu haben und ein bisschen als „väterlicher” Berater und Arzt für verschiedene Fragestellungen des Lebens zur Verfügung zu stehen.
Suchen Sie noch Schiffsärzte und -ärztinnen?
Prof. Olaf Schedler: Wir suchen immer, bekommen aber auch viele Anfragen. Ein Großsegler wie die Alexander von Humboldt II, die nicht bei der Marine fährt und weltweit als einzige grüne Segel hat, ist einfach einzigartig. Nächstes Jahr ist übrigens ein weiterer Ausbildungstörn für maritime Medizin geplant, den ich meist begleite. Kolleginnen und Kollegen aus Allgemeinmedizin, Innerer Medizin, Chirurgie sowie der Anästhesiologie können das Zertifikat erwerben. Auch die Zusatzqualifikation Notfallmedizin ist dafür notwendig. Generell ist es am besten, erst mal bei uns mitzufahren – und wenn die Mannschaft Sie für geeignet hält, heißt es mit etwas Glück auch für Sie: „Leinen los“.
Info:
Generell gilt: Bei mehr als 99 Personen und einer Dauer von mehr als drei Tagen muss ein/e Schiffsarzt/-ärztin an Bord sein. Die Stammcrew der „grünen Lady“ Alexander von Humboldt II zählt 25, dazu kommen mindestens 65 Passagiere. Dank Sonderregelung ist immer ein Schiffsarzt/-ärztin an Bord. Alles ist ehrenamtlich. Hauptaufgabe des zivilen Segelschulschiffs sind die jahrhundertealten seemännischen Fertigkeiten, die zum immateriellen Weltkulturerbe zählen, zu erhalten. Jede und jeder von 14 bis 75 kann mitschippern. Mehr Infos: https://alex-2.de/.