Eine harte Nachtschicht lag hinter mir. Immer dann, wenn ich gerade eingeschlafen war, klingelte wieder das Telefon. Kurz vor Schichtende, um 7.45 Uhr, legte ich mich noch einmal hin, um doch noch ein paar Minuten Schlaf abzubekommen. Aber wieder klingelte es, um 8.15 Uhr. Einer der Oberärzte zitierte mich mit einem ungewöhnlich scharfen Ton zur Konferenz: ”Wir fangen heute früher an! Komm! Jetzt!”
Auf dem Weg zum Konferenz-Raum fragte ich mich, ob ich etwas vergessen oder eine Mail übersehen hatte. Beim Betreten des Raumes herrschte merkwürdige Stille, die koordinierende Oberärztin der Intensiv, mit der ich Nachtdienst hatte, sprang auf und ging mit mir vor die Türe. Dort erzählte sie mir, dass unser lieber Kollege und Kämpfer gegen das Amt für Patientensicherheit, der Mann, der vermochte, alle Ärzte Dänemarks um sich zu scharen und hinter ihm geschlossen gegen Bürokratisierung und die Hetz-Jagd junger Kollegen zu kämpfen, sich das Leben genommen hatte.
Ich war schockiert, hörte was sie sagte, verstand es und doch nicht, also ich verstand es schon – rational, aber nicht emotional. Das kam etwa zwei Minuten später, als ich mich erstmal allein auf Toilette einschloss – wie man das gerne macht, wenn man mit seinen Emotionen allein sein will.
Auch der größte Baum kann fallen
Kristian Rørbæk Madsen wurde nur 43 Jahre alt. Auch der größte Baum kann fallen, Dänemark hat einen Helden verloren, so hallt es in unzähligen Nachrufen wider.
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In Dänemark hinterlässt er eine große Leere, da er für so viele Kollegen eine große Bedeutung hatte – ob man ihn persönlich kannte oder nicht. Für uns junge Kollegen war er ein wundervoller Lehrer.
Die dänische Ärzteschaft ist geschockt. Unter den Kollegen war bekannt, dass Kristian krank war und ihn die Belastungen des Kampfes gegen die Bürokratisierung Kraft kostete. Trotz aller medizinischer und psychologischer Kunst konnte er nicht gerettet werden.
Da meine Tochter mit Kristians Tochter in eine Klasse geht, war mein zweiter Gedanke – nach absoluter Fassungslosigkeit: ”Oh Gott, die Kinder!”
Kristian hat eine wundervolle und starke Frau, die selbst Ärztin ist. Aber trotz allem ist es eine unglaublich harte Aufgabe.
Als sich im Laufe der nächsten Tage die Nachricht im Land verbreitete, machten sich Ungläubigkeit, Trauer und Schock breit. Viele Menschen hatten das Bedürfnis, ihre Anteilnahme und ihren Dank auszudrücken. Und so wurde in einer Facebook-Gruppe für Ärzte überlegt, für Blumen und Grabschmuck zu sammeln. Es wurde in der Gruppe gefragt, wer etwas überreichen könnte – und da ich die Familie durch die Schule kannte, habe ich angeboten, etwas zu überbringen.
Svend, ein Kollege aus Kopenhagen, rief an, um die Sache mit mir zu diskutieren. Er erklärte mir, dass man nur bis zu einem gewissen Betrag offiziel Spenden einsammen könne, ohne dass Steuergelder gezahlt werden müssen. Wir einigten uns darauf, dass wir die Kosten übernehmen würden, falls wir nicht genug einsammeln können und meldeten die Aktion offiziell an. Unsere Sorge war nicht berechtigt.
Wir sammelten innerhalb von drei Wochen 543 281 dänische Kronen ein, das entspricht einem Betrag etwa 73.000 Euro! Über 2.800 Kollegen und Kolleginnen hatten gespendet.
Obwohl wir wußten, dass Kristian viele Kollegen im Land berührt hat, waren wir drei überwältigt und überrascht von dieser großen Anteilnahme.
Mein Kollege Peter legte Konten für die Kinder an, sprach mit Kristians Frau und machte alles klar für den Transfer.
Preis für Engagement und Zivilcourage ausgerufen
Kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember 2018, trafen wir drei uns zum allerersten mal in Peters HNO-Praxis, um uns kennenzulernen und die letzten Details zu besprechen. Wir waren sehr froh, dass wir das Geld noch vor Weihnachten an die Familie übergeben konnten.
An diesem Abend erzählte Peter, dass man genau drei Personen für ein Komitee zur steuerfreien Anmeldung der Sammelaktion benötigt, und Svend sagte, dass sich niemand außer uns beiden bei ihm gemeldet hatte. Manche Dinge fügen sich auf magische Weise.
Kristian wird nicht nur mir, sondern auch in ganz Dänemark unvergessen bleiben. Die Universität Odense vergibt zukünftigt einen Preis für Engagement und Zivilcourage: den Kristian Rørbæk Madsen- Kollegialitäspreis.