Andrologie: „Es geht um den ganzen Mann“

Androloge
© Syda Productions / Adobe Stock
Ursachen von Erektionsstörungen oder eine beeinträchtigte Fertilität beim Mann sind vielfältig und komplex. Deshalb muss der Mann in der Behandlung immer ganzheitlich betrachtet werden, sagt der Androloge Dr. Jann-Frederik Cremers (46). Cremers ist Leitender Oberarzt am Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster. Er setzt sich dafür ein, die Andrologie populärer zu machen. Denn mangelndes Wissen, Tabuisierung, Ängste und sozialer Druck sind Gründe, warum Männer die sogenannten Männerärzte nicht aufsuchen.

Herr Dr. Cremers, außerhalb medizinischer Kreise sind Andrologen kaum bekannt. Mit welchen Gesundheitsproblemen beschäftigt sich die Andrologie?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Die Andrologie ist definiert als die Lehre der reproduktiven Gesundheit des Mannes. Also der Funktionen, die es bedarf, um sich sexuell fortzupflanzen. Andrologen behandeln ein breites Spektrum von Erkrankungen, darunter männliche Unfruchtbarkeit, Erektionsstörungen, penilen Erkrankungen, Störungen des Samenergusses, hormonelles Ungleichgewicht und Hodenerkrankungen. Je nach Diagnose kommen konservative oder operative Therapien zum Einsatz. Voraussetzung für die Weiterbildung zum Andrologen ist eine Facharztausbildung. Häufig haben Urologen wie ich diese Zusatzbezeichnung, aber auch Endokrinologen und Dermatologen, was aufgrund der thematischen Überschneidungen sinnvoll ist.

Für Mädchen und Frauen ist es selbstverständlich, zur gynäkologischen Untersuchung zu gehen. Jungen und Männer gehen vergleichsweise selten zum „Männerarzt“. Woran liegt das?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Unter anderem Unwissenheit, Hemmungen, aber auch mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz – eine Art kulturelle Lücke. Offenbar gilt es immer noch als Zeichen von Schwäche, wenn Männer mit gesundheitlichen Problemen im Bereich Sexualität oder Fortpflanzung professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Da ist noch viel Überzeugungsarbeit notwendig, um das zu drehen. Ich bin schon froh, wenn Männer den Urologen als Vorsorge-Ansprechpartner auf dem Schirm haben. Dieser kann bei speziellen Fragen an einen Andrologen überweisen, wenn er selbst kein Androloge ist.

Mit welchen Problemen suchen Männer Sie auf?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Wir decken hier in Münster das gesamte Spektrum der Andrologie ab. Etwa die Hälfte unserer Patienten verteilt sich auf erektile Dysfunktion, also Erektionsstörungen, hormonelle Dysregulation und andere Bereiche wie Ejakulationsstörungen. Die andere Hälfte kommt wegen Fertilitätsproblemen. Dabei war es früher üblich, sich ausschließlich auf die Spermienfunktion zu konzentrieren. Wir jedoch betrachten den Mann ganzheitlich. Das heißt, wir analysieren nicht nur das Ejakulat, sondern führen intensive Gespräche mit dem Mann und seiner Partnerin, um mögliche Ursachen wie Medikamente, Vorerkrankungen oder hormonelle Störungen zu erkennen. Bei der Kinderwunschbehandlung arbeiten wir eng mit dem Team des Kinderwunschzentrums zusammen. Die Zahl der Kinderwunschbehandlungen nimmt stetig zu, und die Paare werden immer älter.

In den letzten Jahren ist die männliche Fruchtbarkeitsfähigkeit verstärkt in den Blickpunkt gerückt. Welchen Einfluss haben Umweltfaktoren?

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Dr. Jann-Frederik Cremers: Die Fruchtbarkeitsproblematik ist in der Wissenschaft ein kontrovers diskutiertes Thema. Einige Metaanalysen weisen auf einen Rückgang der Spermienzahl in den letzten Jahrzehnten hin, aber die Interpretation dieser Daten ist umstritten. Auch der Einfluss von Umweltfaktoren auf die männliche Fruchtbarkeit ist Gegenstand laufender Forschung. Zum jetzigen Zeit kann man jedoch noch kein abschließendes Urteil fällen.

Welche vielversprechenden andrologischen Forschungsansätze gibt es?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Es wird intensiv an der Fertilitätsprotektion, dem Schutz der Fruchtbarkeit, geforscht. Dabei geht es darum, die komplexen Vorgänge im Hoden besser zu verstehen und gezielt zu beeinflussen, um dort aus Stammzellen Spermien zu generieren – im besten Fall ein Leben lang. Diese Methode könnte Patienten, bei denen keine Spermien, aber Stammzellen vorhanden sind, zu einer genetischen Vaterschaft verhelfen. Auch Patienten, die im Kindesalter eine gonadotoxische Therapie wie Chemotherapie oder Bestrahlung erhalten haben und deren Hodenfunktion dadurch geschädigt wurde, könnten davon profitieren: Ihre Stammzellen werden im Kindesalter eingefroren und später im Erwachsenenalter genutzt, um Spermien zu bilden. Diese Forschung treiben internationale und interdisziplinäre Teams voran, auch wir in Münster sind dabei. Das Forschungsgebiet macht große Fortschritte, aber wir sprechen von mindestens 10 bis 20 Jahren bis zu einer erfolgreichen Therapie.

Ein klassischer Behandlungsbereich ist die erektile Dysfunktion. Wie ist da die Altersstruktur?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Natürlich nimmt die Häufigkeit der erektilen Dysfunktion mit dem Alter zu: Je älter die Patienten, desto höher das Risiko, darunter zu leiden. Aber auch junge Männer suchen bei uns Hilfe. Insgesamt ist jeder fünfte Mann zwischen 30 und 80 Jahren betroffen. Es ist mir wichtig zu betonen, dass die erektile Dysfunktion keine eigenständige Krankheit ist, sondern ein Symptom, das auf eine Vielzahl von gesundheitlichen Problemen hinweisen kann. Zu den möglichen Ursachen zählen unter anderem Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und hormonelle Störungen. Auch psychische Faktoren können eine Rolle spielen. Daher muss auch hier der Gesundheitszustand des gesamten Mannes betrachtet werden. Sind die Auslöser einer Erektionsstörung bekannt, kann man mit verschiedenen Maßnahmen dagegen vorgehen. Das können Medikamente, eine Psychotherapie oder eine Operation sein. Auch eine Behandlung mit Testosteron ist möglich und ebenfalls helfen kann eine Änderung des Lebensstils.

Wie zum Beispiel macht sich die Psyche bemerkbar?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Wenn zum Beispiel die Erektion nicht wie gewünscht funktioniert, können die anfänglichen Schwierigkeiten zu Stress und Versagensängsten führen. Und dieser zunehmende psychische Druck beeinträchtigt die sexuelle Funktion noch mehr, bis es schließlich gar nicht mehr klappt. Das zeigt, wie stark Stress und Angst die Sexualität beeinflussen können. Das ist ein uralter Mechanismus, den ein Kollege mal treffend beschrieben hat: „Unser Körper ist immer noch wie in der Steinzeit programmiert. Wer vor einem Säbelzahntiger flieht, braucht keine Erektion“.

Gesundheitliche Probleme im Bereich Sexualität und Fortpflanzung sind nach wie vor stark tabuisiert. Viele Betroffene empfinden Scham und Hemmungen, darüber zu sprechen. Wie erleben Sie das im Alltag?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Für Patienten, die sich in unserem universitären Setting behandeln lassen, sind wir oft nicht die erste Anlaufstelle. Das sind meist die Hausärzte. In der Regel sind die Patienten also mental auf die Gespräche vorbereitet. Dennoch kostet es viele Überwindung, offen über ihre Problematik zu sprechen. Insgesamt besteht ein deutlicher Bedarf an offener Kommunikation über sexuelle Gesundheit zwischen Patienten und Ärzten. Wissenschaftliche Studien belegen, dass sich ein Großteil der Patienten eine proaktive Ansprache durch Allgemeinmediziner, Gynäkologen und Urologen wünscht. Manche Männer wissen gar nicht, dass ihre Beschwerden wie abnehmende Libido behandelbar sind, und finden sich damit ab. Das muss nicht sein. Wir Ärzte haben die Pflicht, dieses Thema professionell anzusprechen, anstatt es zu vermeiden. Denn wir sollten uns bewusst sein, dass die Sexualität einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten hat.

Welche Aspekte Ihrer Arbeit empfinden Sie als besonders herausfordernd?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Eine der schwierigsten Aufgaben ist es, Paaren mitteilen zu müssen, dass eine genetische Elternschaft – in meinem Fall des Mannes – nicht möglich ist. Dass er auch nach intensiven Untersuchungen oder sogar Operationen keine Spermien produzieren kann und dass wir ihm nach dem heutigen Stand der Medizin nicht helfen können. Für die Paare sind wir die letzte Hoffnung, genetische Eltern zu werden. Diese negative Nachricht ist für sie oft niederschmetternd, auch wenn es Alternativen wie Samenspende oder Adoption gibt, die von den Paaren meist erst in Betracht gezogen werden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Solche Gespräche sind emotional herausfordernd – sowohl für die Patienten als auch für mich als Arzt. Eine weitere Herausforderung, die ich gleichzeitig als Chance sehe, ist die Öffentlichkeitsarbeit. Als Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Andrologie habe ich die Möglichkeit, durch journalistische Anfragen das Bewusstsein für das Thema zu stärken und darauf hinzuweisen, dass es Spezialisten für das ein oder andere Problem gibt.

Was hat Sie dazu motiviert, sich als Urologe zum Andrologen weiterzubilden?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Ich habe die Weiterbildung vor vielen Jahren hier am Centrum in Münster gemacht. Zum einen hat mich die Kinderwunschbehandlung von Paaren gereizt. Zum anderen gibt es eine enge Verzahnung von Forschung und Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Patientenversorgung, zum Beispiel in neuen Testverfahren der Spermienfunktion oder genetischen Ursachen der Infertilität. Die Andrologie ist ein Gebiet, das gebraucht wird, das erfahre ich immer wieder. Die Patienten sind dankbar und glücklich, wenn sie jemanden finden, der sich ihrer Probleme annimmt. Sei es beim Kinderwunsch oder beim Thema Geschlechteridentität. Sie spüren, dass man es nicht als Lifestyle abtut, sondern ernst nimmt.

In Deutschland gibt es nur eine überschaubare Zahl an Andrologen. Rund 1.500 sind berufstätig. Wir kann man die Zusatzweiterbildung attraktiver gestalten?

Dr. Jann-Frederik Cremers: Da gibt es zwei Ansätze. Zum einem müssen andrologische Leistungen adäquat von den Krankenkassen vergütet werden. Nur so ist es für Kollegen in den Praxen attraktiv, die Weiterbildung zu absolvieren und auch den Schwerpunkt einer Praxis darauf auszurichten. Das zweite Problem ist die Weiterbildungsstruktur selbst. Die Bundesärztekammer ist im Begriff, diese zu überarbeiten, und da bin ich zuversichtlich, dass zusätzliche Anreize für diese Qualifikation angeboten werden.

Dr. Jann-Frederik Cremers
Der Experte
Dr. Jann-Frederik Cremers (46)

ist Facharzt für Urologie, Andrologie und Medikamentöse Tumortherapie und Leitender Oberarzt am Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster, wo er seit 2015 tätig ist. Zudem ist er seit 2024 Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Andrologie e.V.

Bild: © Universitätsklinikum Münster

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